Nachtflug Zur Hölle
mitsamt dem Atomkraftwerk bis 1995 der GUS. Die Truppen sind nicht verpflichtet, jemanden einzulassen.«
»Dann bleiben wir vor dem Tor«, entschied Anna, »aber unsere Kundgebung findet trotzdem statt. Warum ist dieser Reaktor weiter in Betrieb? Er erzeugt keinen Strom für Litauen. Wird dort drinnen weiter experimentiert?«
»Was im Fisikus-Institut passiert, geht bis 1995 nur die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten etwas an«, sagte Palcikas. »Und der Reaktor Denerokin soll bis Ende dieses Jahres stillgelegt werden. Das steht im Vertrag.«
»In dem Schandvertrag, den die Vereinten Nationen unserer Regierung aufgezwungen haben, ohne auch nur einen UNO-Beauftragten nach Litauen entsandt zu haben!« sagte Anna Kulikauskas hitzig. »Dadurch hat die GUS die Erlaubnis erhalten, Litauen zu vergiften und noch ein paar tausend unserer Mitbürger umzubringen.«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung, Anna«, stimmte Palcikas zu. »Mir wäre es am liebsten gewesen, wenn Denerokin gleichzeitig mit dem Atomkraftwerk Ignalina bei Siauliai, dessen Stillegung Sie erzwungen haben, abgeschaltet worden wäre. Aber dazu ist es nun einmal nicht gekommen. Jetzt muß ich mich an die gesetzlichen Bestimmungen halten und meine Befehle ausführen.«
»Der tapfere kleine Soldat!« warf Anna ihm spöttisch vor. »Hält den Mund und tut, was ihm befohlen wird – während Tausende von Litauern an vergiftetem Wasser, vergifteter Luft und vergifteten Lebensmitteln sterben.«
»Als litauischer Soldat kann ich nicht mehr tun, als das Gesetz mir erlaubt«, erklärte Palcikas. »Das müßten Sie als Abgeordnete am besten wissen.« Anna, die dem aus hundert Abgeordneten bestehenden litauischen Parlament angehörte, funkelte ihn irritiert an.
Sie wußte, daß er recht hatte.
»Aber als Soldat kann ich Ihnen eines sagen, Anna: Unsere gegenwärtige Situation ist äußerst gefährlich. Im ganzen Land stehen weißrussische und GUS-Truppen, die ich nicht alle kontrollieren kann. Sie belästigen unsere Bürger täglich, es kommt jeden Tag zu Vertragsverletzungen, und ihre Zahl nimmt zu, nicht etwa ab. Im Fisikus-Institut scheinen mehr weißrussische Truppen stationiert zu sein als je zuvor – und dazu kommen die ehemaligen OMON-Truppen.
Anna, ich bin dabei, alle Vertragsverstöße zu sammeln, damit unsere Regierung sie den Vereinten Nationen vorlegen und auf striktere Einhaltung des Vertrags pochen oder sogar seine Überwachung durch UNO-Beobachter verlangen kann. Aber meine Argumente sind noch nicht überzeugend genug. Bis dahin wäre es besser, nicht zum Fisikus zu marschieren. Das ist die letzte große GUS-Einrichtung in Litauen, die noch aktiv ist. Sollte man dort den Eindruck haben, das Fisikus sei bedroht, könnte eine gewalttätige Reaktion erfolgen.«
»Wir haben das Recht, überall in diesem Land friedlich zu demonstrieren«, wandte Kulikauskas ein.
»Ja, natürlich, aber ich sehe andererseits keinen Grund, den Tiger am Schwanz zu ziehen. Ich möchte Sie bitten, mit den Demonstranten im Nordosten der Einrichtung zu bleiben – an der Zufahrt zum Atomkraftwerk. Versuchen Sie bitte nicht, am Südtor zu demonstrieren, denn dort sind die Sicherheitsvorkehrungen weniger umfangreich, so daß die GUS-Truppen nervös werden und irgendwas Dummes tun könnten.«
»Das sollten sie lieber nicht wagen!«
»Dumme – und tödliche – Dinge passieren immer wieder, Anna.
Ich versuche nur, einige davon zu vermeiden. Sorgen Sie dafür, daß die Masse Ihrer Demonstranten jenseits der Straße auf dem Parkplatz des Güterbahnhofs bleibt – dort laßt sich das Podium mit den Lautsprechern aufbauen –, und lassen Sie nie mehr als hundert Menschen in die Nähe des Kraftwerkstors gelangen. Ich stationiere meine Soldaten zwischen Tor und Demonstranten, damit sie die letzten fünfzig Meter absperren.
Ihre Leute können meinetwegen die Straße zum Kernkraftwerk blockieren, mit Spruchbändern protestieren, Strohpuppen mit Namensschildern aufhängen – solange Sie nicht in die Nähe des Tors oder des Zauns kommen. Können wir uns auf diese Schutzzone einigen, gehe ich zum Leiter des Sicherheitsdiensts im Fisikus und erkläre ihm, was voraussichtlich passieren wird. Solange alle Beteiligten informiert sind, dürfte eigentlich nichts schiefgehen. Einverstanden?«
Anna überlegte lange. Der Gedanke, eine friedliche Demonstration irgendwelchen Einschränkungen zu unterwerfen, war ihr zuwider, aber Sicherheitserwägungen gingen vor, und Palcikas’ Vorschlag klang
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