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Nachtflug Zur Hölle

Nachtflug Zur Hölle

Titel: Nachtflug Zur Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dale Brown
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beschränken sich auf das, was Sie heute abend sehen werden.« Als sie den zweiten Stock erreichten, wandte er sich an Anna und flüsterte verschmitzt grinsend: »Trotzdem schönen Dank, daß Sie gefragt haben, Miss Kulikauskas.«
    Als sie auf die Empore der Burgkapelle hinaustraten, bot sich Anna und ihrem Vater ein erstaunlicher Anblick. Im Lichtschein von Fackeln und Wandlampen sahen sie zwölf Männer in groben schwarzen Kutten, die in Kreuzform – mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Beinen – auf dem Steinboden vor dem Altar lagen. Umgeben waren sie von vier Wachposten in blanken Ritterrüstungen, die sich auf langstielige Streitäxte stützten.
    »Um Himmels willen, was hat das zu bedeuten?« fragte Anna flüsternd.
    Palcikas wandte sich lächelnd an ihren Vater. »Vielleicht wollen Sie’s Ihrer Tochter erklären, Kulikauskas?«
    Der Alte lächelte stolz, während er Anna erklärte: »Was du hier siehst, mein Kind, ist die Aufnahme dieser zwölf Männer in die Ritterschaft.«
    »Ritterschaft? Wie im Mittelalter?«
    »Nicht nur im Mittelalter, Anna«, warf Palcikas ein. »Ich habe die Tradition der Ausbildung und das Aufnahmeritual in die Gegenwart übernommen, jeder Mann und jede Frau kann in meine Verbände eintreten und dort Offizier werden – aber nur wenige besonders qualifizierte Kandidaten dürfen das Wytis, die Kriegsflagge des Großfürsten, als Abzeichen tragen. Die Männer dort unten haben eine zweijährige Ausbildung absolviert, um dieses Recht zu erwerben.«
    »So müssen sie bis morgen früh ausharren«, fügte der Alte hinzu.
    Palcikas nickte zustimmend. »Sie beten im Chor, sagen die Regeln der Ritterschaft auf, erhalten pro Stunde nur einen Becher Wasser und bitten um die Kraft, die Obliegenheiten eines Ritters erfüllen zu können.« Er deutete auf einen Offizier, der soeben die Kapelle betrat.
    »Paß gut auf, Anna, aber erschrick nicht!«
    Der Neuankömmling, einer von Palcikas’ Offizieren in Paradeuniform, beugte das Knie vor dem Altar, bekreuzigte sich und blieb dann vor einem der vier Wachposten stehen. Der Geharnischte erwiderte seinen Gruß und ließ ihn passieren. Der Offizier kniete nieder, betete kurz, stand wieder auf und griff nach einer bereitliegenden langen schwarzen Lederpeitsche.
    Anna holte erschrocken tief Luft. »Was …«
    Der Offizier trat vor den Altar, beugte nochmals das Knie und drehte sich zu den zwölf Kandidaten um. »Möge der Segen Gottes und Jesu Christi auf euch ruhen!« sagte er mit lauter Stimme. »Ehre sei Gott und Frieden unserem Land.«
    »Ehre sei Gott und Frieden unserem Land!« wiederholten die zwölf Kandidaten im Chor.
    »Wer behauptet, würdig zu sein, Kreuz und Schwert zu empfangen?« fragte der Offizier laut.
    »Wir, Herr, die demütigen Knechte vor euch!« lautete ihre Antwort. Gleichzeitig zogen alle zwölf Kandidaten ihr Gewand herunter und legten ihren nackten Rücken frei, bevor sie wieder die ursprüngliche Haltung einnahmen. Anna starrte sie erschrocken an; die Augen ihres Vaters glänzten erwartungsvoll.
    Der Offizier trat neben den ersten Kandidaten und fragte ihn:
    »Knecht, was begehrst du?«
    »Herr«, antwortete der Liegende laut, »ich begehre die Disziplin, um mich der Macht als würdig erweisen zu können.«
    Daraufhin hob der Offizier die Peitsche und versetzte dem Kandidaten einen kräftigen Hieb. Das Klatschen auf der nackten Haut hallte durch die Kapelle. Der Offizier ging weiter, wiederholte seine Frage beim nächsten Mann und schlug wieder zu. Nach jedem Peitschenschlag riefen die Kandidaten im Chor: »Herr, gib mir die Kraft!«
    »Wie kann er nur!« fragte Anna erschrocken. »Das ist eine richtige Peitsche! Er hat den Mann geschlagen!«
    »Das ist die Tortur, Anna«, sagte ihr Vater und lächelte dabei überrascht und zufrieden. »In den vierundzwanzig Stunden vor dem Altar erhält jeder Kandidat von den anderen Rittern hundert Peitschenhiebe.«
    »Wie barbarisch! Wie erniedrigend … und … entwürdigend …«
    »So will es die Tradition, Anna«, sagte Michaus Kulikauskas stolz.
    »Ein Kandidat, der sich nicht wirklich aufopfern will, hält nicht durch. So wird seine Loyalität auf die Probe gestellt. Schon vor siebenhundert Jahren hat König Gediminas dieses Ritual – vermutlich in dieser Kapelle – vollziehen lassen.«
    »Aber warum? Wozu Menschen wie Tiere schlagen?«
    »Weil Soldaten damals harte Burschen gewesen sind – viel härter als heutzutage«, antwortete der Alte. »Im vierzehnten Jahrhundert hat

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