Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
sollte.«
Keinen Anstoß, nur ein verzweifeltes Gefühl der Erleichterung, nicht darüber entscheiden zu müssen, ob er davon sprechen sollte oder nicht. »Das … war mein Bruder. Seit siebzehn Jahren verschwunden und immer noch ein Ungeheuer. Und er hat meine Tochter oder weiß, wo sie ist. Lorcas, Sie haben gehört, was er von mir verlangt hat; Sie wissen, dass ich keine andere Wahl habe, als mich zu fügen, obwohl eines für mich feststeht: Wenn irgendjemand für die Ermordung Tercelle Amberleys brennen sollte, dann Lysander!« Er schauderte. »Aber ich nehme an, es würde wieder das Wort eines Bruders gegen das eines anderen stehen; diesmal gibt es noch nicht einmal Asche.« Balthasar flüsterte, ein verzweifeltes Geständnis: »Ich kann Baron Strumheller nicht länger helfen. Er besteht darauf, dass ich … es nicht tue.«
»Ich verstehe vollkommen, und der Herr würde es ebenfalls verstehen«, sagte der Kammerdiener leise. »Wir sollten das herzogliche Personal bitten, sich jetzt um Sie zu kümmern. Es könnte Ihre Tochter gefährden, wenn er von der Verbindung zwischen uns und dem Herrn erführe. Mein Sohn und ich werden in die städtische Residenz zurückkehren. Dort kümmern wir uns um einige Korrespondenzen und arrangieren einige Geldzahlungen. Falls wir nicht von Fürst Vladimers örtlichem Netzwerk unterstützt werden sollten, müssen wir für unsere Nachforschungen bezahlte Agenten einsetzen. Doch, wenn ich so kühn sein darf, ich denke, mein Herr würde Ihnen empfehlen, ebenfalls zu der Schwester Ihrer Gattin zu gehen.«
»Das … kann ich nicht«, sagte Balthasar. »Lysander wird zurückkommen.« Was das geringste Problem war, wie er begriff, krank vor Scham. Er wollte Telmaine nicht Lysander aussetzen und nicht Zeuge werden, wie sein Bruder sie manipulierte. Er wollte ihr nicht erklären müssen, warum er Baron Strumheller seine Unterstützung entzog, obwohl er wusste, dass sie ihn verstehen und es verzeihen würde, weil er es für ihre Familie tat. Sie hatte bereits dagegen protestiert, dass er sich in die Angelegenheit verwickelte, und er hatte ach so beredt seine Argumente vorgetragen und sie weggeschickt.
Grundgütige, verfluchte Imogene. Er dachte – er hatte es geschworen –, dass er sich nie wieder Lysanders Willen beugen würde, sich nie wieder zum Komplizen für dessen Gelüste und Verderbtheit machen würde. Niemals hatte er sich vorgestellt, Anteil am Leiden von Unschuldigen unter Lysanders Händen zu haben. Was er Strumheller antun würde, war Verrat genug, angesichts Blondells Bereitschaft, ihn zum Sündenbock zu machen. Aber Strumheller hatte noch immer treue Verbündete und verfügte über ausreichende Mittel; er war nicht hilflos. Doch auf Tercelle Amberleys kleine Söhne traf dies zu, falls sie überhaupt noch lebten. Wie immer Lysanders wahre Beziehung zu ihnen aussah, er konnte ihnen nur Schaden zufügen. Es war ihm nicht gegeben, etwas anderes zu tun.
Vielleicht wusste Lysander bereits über sie Bescheid; vielleicht hatte Tercelle ihm erzählt … was? Von diesem lichtgeborenen Liebhaber … Aber warum sollte Lysander ihr geglaubt haben, und warum erst hätte er sich dadurch in diesen mörderischen Zorn hineinsteigern sollen? Vielleicht hatte er ja auch damit gerechnet, dass diese Kinder anders sein würden, und sie war voller Angst und Entsetzen vor ihm geflohen – aber warum hatte sie sich dann ihm, Balthasar, nicht anvertraut? Nun gut, sie kannte ihn aus einer Zeit, da er noch unter Lysanders Bann gestanden hatte – aber warum wäre sie in diesem Fall dann vor Lysander geflohen und hätte ausgerechnet bei ihm Zuflucht gesucht? Es waren lauter Widersprüche, und sein erregter Verstand fand keinen Halt.
Telmaine
Mehrere Male in der Nacht wurde Telmaine vom Weinen eines Kindes geweckt. Zweimal war es Amerdale gewesen; die anderen Male hatte sie geglaubt, es sei Florilinde, bis zu diesem bleiern Moment der Erkenntnis, dass das nicht sein konnte. Dazwischen peinigten sie bizarre Träume: Träume von Straßen, auf denen sie nie gegangen war, und von Menschen, die sie nie gekannt hatte; von einem fremden alten Mann in einem mit Zierrat gefüllten Haus; von der Berührung des geschwollenen Beins eines Mannes, dessen Schmerz sie gespürt und gelindert hatte; vom Hocken im Steinschutt unter knorrigen Bäumen, inmitten einer Weite, die ihr Sonar nicht mehr auszuloten vermochte; vom Rennen um ihr Leben, ihre Verfolger so nahe, dass sie sich nicht umzudrehen wagte. Aus diesem
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