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Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren

Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren

Titel: Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Sinclair
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letzten Traum erwachte sie zitternd, als die Sonnenuntergangsglocke läutete.
    Amerdale lag schlafend in dem Bettchen neben ihr. Florilinde … Florilinde war irgendwo da draußen in der Stadt, allein, und weinte in Telmaines Träumen. Sie dämpfte ihr Sonar, blieb still liegen und dachte an ihre Erstgeborene, wie die Amme sie schreiend zwischen Telmaines Oberschenkel herausgehoben hatte. Auch während Florilinde sich in der Welt ankündigte, war sie noch immer durch die dicke Nabelschnur mit Telmaine verbunden gewesen. Wenn es doch nur eine solche Schnur gegeben hätte, die Herz an Herz band, Mund an Ohr, Auge an Auge.
    Wer wollte sagen, dass es eine solche Verbindung nicht gab für eine magiebegabte Mutter und ihr Kind? Sie hätte Ishmael di Studier danach fragen können – sie hätte ihn viele Dinge fragen können, wäre da nicht ihre Abneigung gewesen und seine Aufdringlichkeit. Ihre umherschweifenden Gedanken verweilten bei diesem Kuss und bei den Gefühlen, die er in ihr und in ihm und wiederum in ihr heraufbeschworen hatte. Wie konnte sie, sagte die innere Stimme des Tadels, wie konnte sie zu einer solchen Zeit an etwas Derartiges denken? Aber sie tat es und dachte auch: Wenn ich mächtiger bin als er, ist meine Magie dann wirklich in mir eingeschlossen und nur über die Haut, die Berührungen in der Lage, eine begrenzte Wirkung nach außen zu zeigen? Obwohl das bei seiner Magie nicht der Fall zu sein scheint?
    Langsam atmete sie ein und aus, dehnte Wahrnehmung und Bewusstsein über die Grenzen der Haut hinaus und suchte die unverkennbare Essenz des Bewusstseins ihrer älteren Tochter, suchte die Kinderstimme, die in ihren Träumen weinte. Still wie Nebel durchdrang ihr Bewusstsein den Raum. So als hätten ihre Finger die Haut ihrer Tochter gestreift, spürte sie Amerdales träumende Präsenz, hatte ein Gefühl von einer weichen Hundeschnauze, die ihr Gesicht anstupste, von Kätzchenfell, flauschig unter ihren Fingern. Sie ließ sich weitertreiben, über die Wände des Raums hinaus. Sie spürte Merivan – ihre Schwester lag wach da, brodelte vor frustrierten Energien –, deren Ehemann, dessen halbwache Gedanken ein gelehrtes Geschwafel waren, und ihre beiden Kinder. Und die Diener – ein wilder Ausbruch verstohlener sexueller Leidenschaft, der sie an Tercelle Amberleys Eindrücke erinnerte. Und anderswo ein faderes Liebesspiel, die Pflichterfüllung des Mannes so resigniert wie die Ergebung der Frau, die Zuneigung zwischen ihnen erloschen und so kahl wie die Schattenländer. Dann einen Lichtgeborenen und weitere draußen unter der Sonne. Fasziniert verweilte sie einen Moment. Sie waren nicht nur wach, sondern anders , wie harter Kristall für ihre mentale Berührung. Eine Stimme wisperte: ›Wer?‹ Sie schreckte zurück, eingedenk Ishmaels Warnung. Dann noch mehr Lichtgeborene, einige wässrig, einige feurig, einige Kristall, einige Stein, und einige, die sich anfühlten, als hätte ihr dahintreibendes Bewusstsein Blätter oder Gras berührt. Andere Stimmen wisperten: ›Wer?‹, und warteten vergeblich auf eine Antwort. Sie breitete ihr Bewusstsein weiter aus, driftete durch isolierte Punkte von Wasser, Feuer, Stein und Blatt. Lichtgeborene und Nachtgeborene, sie kannte den Unterschied, obwohl ihr Gefühl für die individuellen Essenzen undeutlicher wurde, je mehr von ihnen sie in den Kreis ihres Bewusstseins einschloss, und sie sich Sorgen machte, dass sie Flori berühren könnte, ohne es zu merken.
    Der äußere Rand ihres Bewusstseins streifte etwas wie ein großes, schwelendes Geschwür im Gewebe der Stadt. Trauer, Schmerz, Furcht, Elend. Es war das niedergebrannte Viertel und die Häuser und Hospitäler darum herum, in denen die Trauernden und Leidenden lagen. Ihr Geist wich davor zurück, und für einen Moment verlor sie sich selbst, verlor die Richtung.
    Und dann spürte sie eine milde Aschenglut, die sie erkannte. ›Ishmael?‹ Wie sonst konnte sie ihn nennen, hier? Aber er träumte, einen vertrauten Traum von Flucht und Verfolgung.
    »Telmaine! Telmaine!« In weiter, weiter Ferne wurde ein Körper geschüttelt, ein Gesicht wieder und wieder mit Backpfeifen traktiert, Eiswasser auf einen Kopf und eine Brust geschüttet. In weiter, weiter Ferne wurde eine sehr dünne Leine gestrafft. Sie klammerte sich noch einen erschreckenden, verständnislosen Moment lang an ihr Gefühl von Ishmaels Präsenz, dann war sie zurück, wütend und unwillig im Schlafzimmer.
    Die Stimme, die schüttelnden Hände, die

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