Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
Kindesentführung und Mord und die Letzte wegen Hexerei. Suchen Sie die Akte heraus und lesen Sie sie, wenn Sie so freundlich sein wollen.«
»Wie lange wird es dauern, bis man mich vor Gericht stellt?«, fragte Ishmael.
»Vielleicht Wochen. Ich werde Ihnen einen aufmerksamen Wachposten schicken. Es erfüllt mich mit tiefstem Unbehagen, dass bereits jemand versucht hat, Sie zu vergiften. Seien Sie auf der Hut.«
»Glauben Sie mir, das werde ich sein.«
Telmaine
»Ich glaube«, erklärte Merivan beim Frühstück, » du brauchst eine Ablenkung.«
Sie löffelte großzügig mit Honig versetztes Minzgelee auf eine üppige Scheibe Toast. Der Morgen war ihre beste Tageszeit, und in ihrem dicht mit Spitze besetzten Morgengewand wirkte sie würdevoll und energiegeladen, ganz die Herrin des Frühstückstisches.
Telmaine dagegen fühlte sich völlig zerschlagen. Sie hatte sich bemüht, ihr Äußeres in Ordnung zu bringen, aber die Zeit, die sie für ihre Toilette benötigt hätte, war dafür draufgegangen, Amerdale für das Kinderfrühstück im Kinderzimmer zu beruhigen, da das Kind nicht von seiner Mutter getrennt werden wollte. Merivan, die ihre Schwester peilte, hatte die Lippen zusammengepresst, enthielt sich aber aus Rücksicht auf die bekümmerte Mutter jedweder Bemerkung.
»Meinst du nicht auch, Theophile?«, fragte Merivan ihren Mann, der die Zeitung las. Seine Finger bewegten sich noch schneller über die gestanzten Reihen als Balthasars Finger, wenn er las, und sein Gesicht zeigte den leicht benommenen Ausdruck tiefer Konzentration, der schon Advokaten und Verbrecher gleichermaßen genarrt hatte. Er schüttelte sich. »Pardon, meine Liebe.«
»Ich habe gesagt«, wiederholte Merivan, »dass ich glaube, Telmaine brauche eine Ablenkung.«
Ablenkung, dachte Telmaine wild. Fahrten durch den Park, Besuche bei der Schneiderin, Ausflüge aufs Land, Bälle, Feste, Salons und Konzerte, Romanlektüre, Briefe, der neueste Klatsch … die Beruhigungsmittel der Gesellschaft für die Sorge eines abwesenden Elternteils, die Trauer um einen toten Bruder oder eine Schwester, die Ängste vor einer bevorstehenden Niederkunft, die Scham über die Untreue eines Ehemannes, die Geldsorgen einer Familie, ein die Schwiegereltern betreffender Skandal, die Ängste wegen der Krankheit eines Ehemannes oder einer entführten Tochter. Sie fügten den Bürden des Lebens die Bürde gesellschaftlicher Heuchelei hinzu.
»Hm«, sagte Theophile und ließ einen verstohlenen Ultraschallruf über sie hinweggleiten. »Das hätte ich selbst nicht gesagt. Ich hätte gesagt, dass sie weiter nach ihrer Tochter suchen will. Ich habe drei der Ermittlungsagenten, die ich für gewöhnlich beauftrage, gebeten, nach dem Frühstück vorbeizukommen.«
Telmaine schmolz vor Dankbarkeit und erinnerte sich daran, warum der formidable Richter ihr Lieblingsschwager war. Er bemerkte Dinge.
»Muss sie sich so aufregen?«, fragte Merivan mit ausgeprägtem Beschützerinstinkt. »Gewiss sollte ihr Mann, dessen Torheit diese Angelegenheit verschuldet hat, diese Nachforschungen anstellen.«
»Das würde ich gern tun«, ergriff Telmaine nun für sich selbst das Wort. »Vielen Dank.«
»Nun, es wird nicht sehr lange dauern.« Merivan nahm einen weiteren Anlauf. »Und dann, denke ich, solltest du einen Besuch bei …«
Es war unerträglich. »Es gibt niemanden, den ich zu besuchen wünsche, außer meinem Ehemann«, blaffte Telmaine.
Es folgte eine Pause, und Merivan sagte gekränkt: »Ich habe heute Morgen eine Karte von Sylvide di Reuther bekommen. Sie fragt, ob sie uns ihre Aufwartung machen dürfe.« Zweifellos bezog Merivan die schuldbewusste Miene von Telmaine eher auf sich selbst als auf Sylvide, denn sie fuhr unerbittlich fort: »Ich denke, es wäre passender, wenn du ihr deine Aufwartung machen würdest.«
Natürlich, dachte Telmaine: Während Prinzessin Telmaine Stott gesellschaftlich über Prinzessin Sylvide di Reuther stehen mochte, tat Frau Telmaine Hearne das nicht.
»Ich verstehe den Unterschied nicht«, murmelte Theophile in seine Zeitung. Telmaine wusste, dass er sehr wohl verstand. Es war ein subtiler Tadel an seine Frau.
Merivan öffnete den Mund und schloss ihn wieder. »Du wirst tun, was du willst«, sagte sie zu Telmaine im Tonfall eines Zugeständnisses. »Das tust du immer.«
Telmaine, den Mund voll trockenem Toast, sah keinen Grund zu antworten. Sie wünschte, sie hätte es gewagt, Theophile zu fragen, was die Zeitungen über Ishmaels –
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