Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
Schwierigkeiten?«
»In großen Schwierigkeiten«, erwiderte Telmaine grimmig. »Bis zu diesem Moment dachte ich, es sei eine gute Idee … deine Kutsche zu benutzen. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Könnte ich bitte die Pistole haben?«
Sylvide zog die Schatulle unter ihren vollen Röcken hervor und reichte sie ihr. Sie knabberte am Zeigefinger ihres feinen Handschuhs, während Telmaine die Pistole auspackte, sich davon überzeugte, dass die Waffe nicht geladen war und sie deren Lade- und Sicherungsmechanismus verstand. Für den Moment ließ sie die Waffe ungeladen. Sie war für die Hand und den Geschmack einer Dame entworfen, aber die Ländereien der Reuthers lagen der Grenze und den Schattenländern immer noch nahe genug, dass selbst Damenwaffen ein gewisses Gewicht hatten. Außerdem gehörte eine kunstvolle Halfterschärpe dazu, eine weitere praktische Erfindung der Grenzlande, da eine Waffe in einem Ridikül oder einer Satteltasche nutzloser sein konnte als gar keine Waffe. Sie streifte sich die Schärpe über die Schulter und gürtete den Taillenbund, sodass das Gewicht der Waffe an ihrer Hüfte lag. Sie würde das Ziehen üben, wenn sie sich im Haus befand. Früher einmal war sie eine einigermaßen gute Schützin gewesen, aber die letzte Gelegenheit, bei der sie eine Waffe in der Hand gehalten hatte, war ein Zielwettbewerb kurz nach ihrer Heirat gewesen – eine der Gelegenheiten, bei denen sie unwissentlich zu der Scham ihrer Familie über ihren Ehemann beigetragen hatte. Balthasar hatte sich als einer der schlechtesten Schützen erwiesen, die ihr jemals begegnet waren.
Sie spürte Sylvides zaghaften Peilruf auf sich, als sie ihre Vorbereitungen beendete. »Tellie«, sagte die andere Frau mit leiser Stimme, »ich verstehe nicht.«
Telmaine holte tief Luft und legte den Kopf in den Nacken. »Es tut mir leid, dass ich nicht da war, um dich im Stadthaus zu empfangen. Ich gestehe, dass ich die Einladung vergessen hatte. Sie wurde mir regelrecht aus dem Kopf gerissen. Du weißt, dass ich die Einladung Baron Strumhellers angenommen habe, mich in die Stadt zu begleiten.«
»Tellie, hast du es denn nicht gehört? Baron Strumheller ist wegen Mordes und Hexerei verhaftet worden.«
»Ich weiß. Ich war dabei, als es passierte.«
»Du warst dabei! Wie …?« Ihre plötzlich entsetzte, schuldbewusste Miene brachte Telmaine beinahe zum Lachen. Sanft sagte sie: »Bal war ebenfalls dabei.«
»Tellie, ich hätte nie …«, erwiderte Sylvide, deren Stimme beinahe ein Schluchzen war.
»Schscht, es ist alles gut. Ich habe das Stadium hinter mir, in dem mich so simple Dinge kränken könnten. Um am Anfang zu beginnen, als wir – die Mädchen und ich und Baron Strumheller – Balthasars Haus erreichten, kamen gerade zwei Männer heraus. Einer von ihnen hat Florilinde gepackt und …« – ihre Stimme war plötzlich belegt – »… sie in eine Kutsche gezerrt und mitgenommen. Wir wissen nicht, wo sie ist.«
»Entführt! Wie schrecklich! Aber warum?«
Sie hatte gründlich darüber nachgedacht, was sie Sylvide und anderen, die sie um ihres Lebens willen vor der Wahrheit beschützen musste, sagen sollte. »Bal hatte einen Patienten behandelt. Sie wollten Informationen über diesen Patienten – vermutlich ging es um eine große Erbschaft. Er weigerte sich, ihnen diese Informationen zu geben. Sie hätten Bal beinahe … sie haben ihn bewusstlos geschlagen: Er hütet noch immer das Bett. Sie haben Flori entführt, aber wir haben noch nicht einmal eine Lösegeldforderung von ihnen erhalten.« Sie würde nicht über Lysander Hearnes Besuch sprechen. »Baron Strumheller hat uns bei der Suche nach Florilinde geholfen, als er verhaftet wurde.«
»Wie entsetzlich! Kann deine Familie nicht helfen? Was ist mit den öffentlichen Agenten?«
»Was alles getan wurde, weiß ich nicht; ich bin nur die Mutter. Mein Schwager, er sei gesegnet, hat mich heute Morgen mit privaten Ermittlungsagenten sprechen lassen. Ich weiß, dass Bal Floria Weiße Hand gebeten hat herauszufinden, was sie konnte, und Baron Strumheller hat mit jemand anderem gesprochen, den ich ebenfalls aufsuchen werde. Ich hoffe, dass sie etwas herausgefunden und wir nur noch nichts davon gehört haben. Kannst du mich zumindest bis zu Bals Haus fahren? Ich werde mit Floria Weiße Hand anfangen.«
»Natürlich!«, sagte Sylvide. »Du armer Liebling.«
Telmaine
»Ich warte hier«, erklärte Sylvide, als die Kutsche hinter Ishmaels Automobil anhielt und drei
Weitere Kostenlose Bücher