Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
aber sie musste es wissen. »Baron … war sie … verhext?« Ihr fielen beim besten Willen keine höflichen und unschuldigen Worte ein, um die Erinnerungen zu beschreiben, die sie aus Tercelle Amberleys Geist gezogen hatte, und sie wurde beinahe ohnmächtig vor Verlegenheit. Sie platzte heraus: »Was sie für ihren … für ihren Geliebten empfand. Es schien sich nicht … zu gehören. Ich habe niemals so empfunden … habe nie jemanden kennengelernt, der …« Ihr Gesicht brannte so heftig, dass sie befürchtete, sie würde zu Asche verglühen.
»Manche Menschen empfinden so, gnädige Frau«, erwiderte er, und seine tiefe, dröhnende Stimme klang wohltuend sachlich. »Aber Sie stellen eine gute Frage, und ich denke …« Dies kam sehr widerstrebend. »Ich fürchte, es ist möglich. Sie hatte viel zu viel zu verlieren, um sich derart gehen zu lassen.«
»Also kann Magie so etwas bewirken.«
Er schwieg. Als sie ihn mit ihrem Sonar streifte, regte er sich und fragte: »Welche Antwort erwarten Sie von mir, gnädige Frau? Dass Magie benutzt werden kann, um Menschen zu missbrauchen und zu beherrschen? Wenn man sie so benutzt, nennt man es Hexerei, und es ist unbedingt ein Verbrechen.« Er beugte sich vor und zuckte leicht zusammen. »Ich möchte Ihnen lieber keine Angst bereiten, aber anscheinend muss ich es tun. Wenn Sie noch einmal machen, was sie vorhin getan haben, gefährden Sie Ihre Gabe, Ihren Verstand und vielleicht Ihr Leben. Sie sind nicht ausgebildet, und Sie sind mächtig genug, um Schaden anzurichten. Sie haben die verehrte Tercelle ziemlich gründlich geleert; hätte ich ihre Lebenskraft nicht wieder aufgefüllt, wäre sie womöglich ins Koma gefallen.«
»Ich … ich wollte nie …«
»Hören Sie mich an, verehrte Telmaine. Haben Sie schon einmal von der Tempelwache der Lichtgeborenen gehört?«
»Ja, aber … aber das sind Lichtgeborene. Sie haben nichts mit uns zu tun.«
»Dem ist nicht so. Es gibt mehr und mächtigere Magier unter den Lichtgeborenen als unter den Nachtgeborenen. Vielleicht wissen sie, wie man mit Magie ein Kind zeugt, aber sie verraten es uns nicht. Der Magiertempel der Lichtgeborenen beaufsichtigt die Magier unter Lichtgeborenen und Nachtgeborenen. Es kümmert den Tempel kaum, was Magier niederen Ranges tun. Wir sind häufig eher für uns selbst eine Bedrohung als für irgendjemanden sonst. Aber der Tempelwache ist es keineswegs gleichgültig, wenn echte Macht missbraucht wird. Das geht bis auf den Fluch und den Magierkrieg zurück, bevor …«
Er hielt inne und lehnte sich zurück. »Sie wissen überhaupt nichts über Magie, nehme ich an. Wenn wir Macht, Stärke sagen, bedeutet das eher so viel wie Effizienz. Das Wirken von Magie bedeutet, dass der Magier seine eigene Lebensenergie und die anderer benutzt, um eine Veränderung in der körperlichen Welt zu bewirken. Wie viel Sie dabei ausrichten können, hängt von den Umständen ab. Aber schon jetzt könnten Sie mit Ihrer Lebenskraft viel mehr bewirken, als ich jemals könnte. Vom ersten Rang zum sechsten, das ist ein gewaltiger Unterschied. Die mächtigsten lebenden Magier sind Magier achten Ranges. Wenn Sie gewusst hätten, was Sie taten, hätten Sie kein Spiculum gebraucht, um Ihren Mann zu heilen. Sofern Sie wollten, könnten sie jemanden dazu bringen zu tun, was immer Sie wünschen, oder Sie könnten ihn bis zum Tod erschöpfen. Das wäre Hexerei. Würde die Tempelwache Sie dabei erwischen, würden sie Ihre Magie und vielleicht auch Ihren Verstand zerstören. Je stärker der Magier, umso größer das Risiko. Ich habe Mistress Floria gegenüber bereits für Sie gelogen und würde es wieder tun. Aber es kommt ein Punkt, den ich nicht überwinden kann, selbst wenn ich wollte.«
In der Dunkelheit hatte sie die Hände auf den Mund gepresst und ihn zu einem stummen Schrei geöffnet. Sie konnte nicht einmal ihren Ultraschallsinn benutzen. Plötzlich spürte sie, wie er mit seinen breiten, warmen Händen ihre Schultern ergriff. »Seien Sie vorsichtig, gnädige Frau. Sie haben eine Macht und einen Geist, die unbezahlbar sind.« Sie fühlte, wie seine Lippen ihre berührten.
Er löste sich von ihr, kurz bevor sie sich ihm entzogen hätte. Den Rest des Weges fuhren sie schweigend, und mit einem schicklichen, aber nicht überschwänglichen Lebewohl hob er sie aus der Kutsche und stand Wache, bis sie die Stufen hinaufgegangen und die Tür geöffnet und hinter sich geschlossen hatte. Von draußen hörte sie, wie seine Kutsche
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