Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
mit seinem Sonar ebenso wahrnehmen wie die feine Gaze, die als Wandbehang diente. Er nieste – welch eine Erschütterung für sein Schlüsselbein! – und unterdrückte verzweifelt weitere Nieslaute. Die einzige Person im Raum, ein massiger junger Mann in legerer Kleidung, grinste ihn aus einem Sessel heraus spöttisch an und erbaute sich an seinem Unbehagen.
Guillaume di Maurier war ebenfalls der entfernte Sohn eines Grenzbarons; allerdings bestand seine Verfehlung nicht wie die Ishmaels im Bekenntnis zur Magie, sondern in einem Leben voller Ausschweifungen, das für einen Mann von nur sechsundzwanzig Jahren als wahrhaft erstaunlich gelten konnte. Ishmael hatte dafür bezahlt, sein Erbe wiederzuerlangen, bezahlt mit Blut, Trauer, Freunden und sichtbaren wie unsichtbaren Narben. Guillaume lümmelte sich seiner Wiedereinsetzung entgegen, an der kurzen Leine gehalten von Vladimer. Wie Ishmael gehörte er zu Vladimers Freischärlern, spezialisiert auf die Lasterhöhlen der Halbwelt. Höchstwahrscheinlich diente das Duftwasser dazu, die Gerüche von abgestandenem Schnaps und inhalierten Rauschmitteln zu überlagern, eine Maßnahme, die vermutlich wegen der erwartenden Ankunft eines der Agenten seines Patrons ergriffen worden war. Aber wen immer der Lebemann damit beeindrucken wollte, musste über eine ziemlich schwache Nase verfügen.
Ishmael, weit davon entfernt, eine unempfindliche Nase zu haben, besaß kein Interesse daran, den jungen Lebemann zu melden, solange dieser nur nüchtern genug war, um sich den Fall anzuhören und entsprechend ans Werk zu gehen. Er machte eine knappe Verbeugung vor Guillaume, die Begrüßung eines Gentlemans durch einen anderen Gentleman, ertrug den Schmerz von seinem Schlüsselbein mit zusammengebissenen Zähnen und versuchte, jedes erneute Niesen zu vermeiden.
Guillaume gestikulierte mit einer großen, weichen Hand, deren Nägel bis auf die Nagelhaut abgebissen waren. »Ich habe Sie nicht zu dieser Stunde erwartet, Strumheller.« Oder überhaupt, besagte sein säuerlicher Tonfall. »Sie sehen aus wie der Tod auf Urlaub. Eine muntere Nacht gehabt?«
»Ja«, antwortete Ishmael. »Und sie ist noch nicht vorüber. Ich bin gekommen, um Sie um Hilfe zu bitten.«
»Mich um Hilfe zu bitten?«
»Ich muss ein entführtes Kind finden.«
»Entführt?« Dies sagte er in einem metallischen Tonfall. Guillaume richtete sich auf. »Junge? Mädchen? Wie alt? Setzen Sie sich.«
Welchen Lastern auch immer er sich hingeben und welche Haltung er Ishmael gegenüber auch einnehmen mochte, Guillaumes Bedürfnis, Kinder zu beschützen, war ebenso echt wie unerbittlich – aus Gründen, die man vor etwa zwanzig Jahren der Sensationspresse hätte entnehmen können und die, so vermutete Ishmael, in Guillaumes Albträumen und berauschten Träumen immer noch eine große Rolle spielten. Gil und seine beiden jüngeren Schwestern waren Opfer einer Grenzlandfehde geworden; man hatte sie entführt und Lösegeld für sie verlangt. Die Entführer verloren in einem Hinterhalt ihr Leben, bevor sie das Versteck der Kinder preisgeben konnten. Als man sie endlich fand, waren die kleinen Mädchen an Hunger und Durst gestorben, obwohl der Junge am Ende versucht hatte, ihnen sein eigenes Blut zu trinken zu geben.
An der Entführung war eine Magierin beteiligt gewesen, die als Amme im Haus gewirkt hatte. Bei der Verhandlung gegen die Hintermänner der Entführung wurde sie beschuldigt, die Hausbewohner in Schlaf versetzt zu haben, um die Entführung zu ermöglichen, und das Versteck der Kinder nicht preisgegeben zu haben. Sie wurde wegen böswilliger Hexerei verurteilt und durch Klingen aus Licht hingerichtet.
Angesichts dieser Vorgeschichte konnte Ishmael Gil vieles nachsehen.
»Mädchen, sechs Jahre alt. Ihr Name ist Florilinde Hearne.« Er hielt inne und dachte daran, dass Vladimer Guillaumes und Hearnes Namen in einem Atemzug genannt hatte, während er Ishmael dazu gedrängt hatte, Hearnes Rat zu suchen. »Sie ist Balthasar Hearnes Tochter.«
Guillaume sog scharf die Luft ein. »Ich kenne dieses Kind. Wo ist Hearne? Weiß er Bescheid?«
»Er ist halb totgeschlagen worden, und das Kind wurde der Mutter förmlich aus den Armen gerissen.«
»Erzählen Sie es mir«, sagte Guillaume mit einem leisen Knurren.
Ishmael sprach Tercelle Amberleys Namen nicht aus und verschwieg auch die Tatsache, dass sie nicht ein Kind, sondern zwei geboren hatte und dass diese Zwillinge über Augenlicht verfügten. Und natürlich ließ er
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