Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
ihr unerträglich, diese Leute auch nur eine weitere Sekunde in der Eingangsdiele diese Hauses zu dulden. Es spielte keine Rolle, dass es Balthasar keinesfalls unerträglich gefunden hätte. Sie hangelte sich von Sessellehne zu Sessellehne bis zur Tür und stützte sich auf den Knauf, während sie die Tür aufzog. »Ich werde Ihnen eine Droschke rufen«, sagte sie.
Den jungen Wachmann neben sich trat sie in die Abendluft hinaus und blies in ihre Pfeife. Einen Moment lang herrschte völlige Stille, dann erklang vom Droschkenstand her das Klirren eines Geschirrs, und eine Kutsche setzte sich langsam in Bewegung. Sie wartete mit hocherhobenem Kopf, wohl wissend, dass ihr Kleid zerdrückt war und ihr Schleier rutschte. Als die Kutsche vorfuhr und der Peilruf des Fahrers leicht über sie hinwegstrich, raffte sie die Röcke und trat anmutig an den Straßenrand hinab. »Sie werden die Magistra und den Magister hinbringen, wo immer sie hinwollen, bitte. Sie haben meinem Haushalt heute Abend einen großen Dienst erwiesen.« Aus ihrem Beutel nahm sie einen halben Solar und drückte ihn dem Kutscher in die Hand; dafür sollte er bereit sein, die halbe Strecke bis zur Grenze zu fahren. Dann drehte sie sich um, schob ihre Röcke beiseite und ging an den Magiern vorbei, welche die Treppe herunterkamen. Zum ersten Mal peilte sie ihre Gesichter; die Frau war tatsächlich ein junges Mädchen, nicht älter als Anarys, wenn auch viel reizloser, und der Mann hatte das mittlere Lebensalter um einiges überschritten. Beide bewegten sich mit dieser knochenmüden Erschöpfung, die sie selbst verspürte, entkräftet von Magie. Der Ultraschallruf des Mannes fing auf, was immer sich von ihrem unwillkommenen Mitgefühl auf ihren Zügen zeigte, denn er hielt inne und sagte sanft: »Sie haben einen bemerkenswerten Ehemann, Prinzessin Stott. Was ihm an Konstitution mangelt, macht er an Geist wieder wett.« Da er seinen Ultraschallsinn nicht benutzte, entging ihm, dass sie seine Worte wie erstarrt aufnahm. Sie erklomm die letzten Stufen halb stolpernd, halb laufend, und Olivede und der Wachmann traten beiseite, um sie vorbeizulassen.
»Er schläft«, sagte Olivede in einem durchdringenden Flüsterton, als Telmaine einen Fuß auf die Treppe zum Obergeschoss setzte. »Weck ihn nicht auf.« Telmaine drehte sich um; Olivede breitete die Hände aus. »Je länger wir es hinauszögern können, ihm von Flori zu erzählen, umso besser. Ich mag die Magierin sein, aber ich war nie in der Lage, irgendetwas vor Balthasar geheim zu halten.«
Ich ebenso wenig. Die Worte steckten Telmaine so schmerzhaft in der Kehle fest, dass sie glaubte, würgen zu müssen. Mit zusammengebissenen Zähnen eilte sie die Treppe hinauf.
Balthasar lag zugedeckt auf der Seite in ihrem Bett, und sein Atem ging langsam und tief. Weder hing der grässliche Geruch eines Krankenzimmers in der Luft, noch Dämpfe von bizarren Kräutern oder Tränken, einzig der schwache Duft von frisch gemähtem Gras ließ sich wahrnehmen. Mit einigem Nachdenken erkannte man, dass der Duft nicht in dieses kleine Stadthaus gehörte. Sie zog es vor, nicht nachzudenken. Äußerst behutsam streifte sie ihre Handschuhe ab, ließ sich sachte auf das Bett sinken und schob die Hand über die Decke, um Balthasars Hand zu ergreifen. Durch seine Haut konnte sie fühlen, wie viel stärker er war, seit sie ihn das letzte Mal berührt hatte; das Atmen war für ihn nicht länger ein Kampf gegen Schwerkraft und Luft, und sein Schmerz war nur noch eintönig, nicht mehr quälend. Seine Heilung machte Fortschritte, und seine liebenswerte Essenz wirkte unverändert. Die Stirn auf seine Hand gedrückt, schmiegte sie sich an ihn und sog diese Essenz in sich auf. Er regte sich nicht.
4
Ishmael
Ishmael ließ seine Kutsche in dem Teil der Stadt halten, der als angesagt galt. Seine Kleidung war dies keineswegs, doch zumindest konnte man ihn selbst für angesagt geschafft halten. Er tappte die breite Treppe hinauf und hängte sich an die Türglocke, bis ein leidenschaftsloser Diener ihn einließ. Ishmael überreichte seine Karte und wartete mit gespreizten Füßen, während er sich fragte, was er tun würde, wenn man ihm den Zugang verwehrte. In diesem Haus konnte ein Magier keineswegs sicher sein, dass er willkommen war. Doch nach einigen Minuten kehrte der Kammerdiener zurück und geleitete ihn in den Empfangsraum.
Er watete in ein so schweres Miasma aus Duftwasser und Tabak, dass er schon glaubte, er könne den Gestank
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