Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
gewaltsamen Träume, und beides beunruhigte sie. Es hatte für alle eine Erleichterung bedeutet, als Phoebe Broome ihn dem Mann vorstellte, der zu seinem Lehrer werden sollte: ein phlegmatischer, misanthropischer Magier, der am anderen Ende der Flussmark in dem alten Distrikt der Nachtgeborenen lebte. Magister Perrin hatte in seiner Jugend selbst die Schattenländer erkundet und nur selten einen Schüler gehabt. Daher wusste er nicht viel darüber, wie man einen Schüler unterrichtete. Und da Ishmael wiederum nicht viel davon wusste, wie man ein Schüler war, hatten sie gemeinsam improvisiert.
In der großen Eingangshalle schien sich seit damals nicht viel verändert zu haben, Wände und Decken waren reich behangen mit Dekor und Teppichen, geschmacklos in ihrer Überfülle und erdrückend zu sondieren. Magier höherer Ränge vergaßen, wie es war, sich auf die gewöhnlichen Sinne verlassen zu müssen. Er ging die Treppe hinauf, wobei er sich von den Wandbehängen fernhielt: Er hatte gehört, dass sich die Liebe zum Übermut, welche die jüngeren Magier teilten, mit der vorherrschenden Begeisterung für Automaten gepaart hatte. Er wollte seinen schlechten Ruf nicht unterstreichen, indem er ein Nest mechanischer Spinnen meuchelte.
›Wer …? Uh!‹ Die flüchtige geistige Berührung stammte von Kindern, die sich Freiheiten herausnahmen und sie bedauerten. Ishmael mochte es an der rohen Stärke mangeln, sich gegen ein mentales Eindringen zu beschirmen, aber er konnte gewiss Bilder heraufbeschwören, um Eindringlinge abzustoßen, und genau das tat er jetzt auch automatisch. Abgesehen von seiner Vorliebe, seine Gedanken für sich zu behalten, brachte ihn seine Arbeit für Vladimer in den Besitz von Staatsgeheimnissen. Wenn es eine Fähigkeit gab, um die er stärkere Magierkollegen beneidete, dann ihr Vermögen, miteinander zu sprechen, ohne sich zu berühren und ohne sich zu verstümmeln – eine Fähigkeit, die bei der Jagd Leben gerettet hätte. Wenn er sie benutzte, lag er anschließend tagelang im Bett.
Über sich hörte er ein Wispern von Kleidung, und ein Ultraschallruf strich über ihn hinweg. Er lächelte, denn er erkannte den sanften Schritt, das Wispern und den Sonar. »Magistra Broome.«
»Magister di Studier. Wie gehabt mit Ihren ganz besonderen Kunststückchen, wenn ich mich nicht täusche.«
Er hoffte, sie spielte darauf an, dass er sich mit einem Minimum an Ultraschall bewegte. Er stellte sich vor, wie sie in der Tür zur Haupthalle stand, die sich zum Mittelpunkt des Haushalts entwickelt hatte. Sie war eine hochgewachsene Frau, beinahe einen Fuß größer als Ishmael, und extrem dünn, mit langem, schmalem Brustkorb und Hüften, nur geringfügig breiter als die eines schlanken Mannes. Der für ihren Körper kleine Kopf trug überraschend feine Gesichtszüge. In ihrem Haus bevorzugte sie Jacken und Hosen, wie Männer sie trugen. Ishmael wünschte gelegentlich, er hätte sie mit einem ehemals im Varieté berühmten Transvestiten bekannt machen können; Ruther wäre entzückt gewesen. Er hatte es jedoch nicht gewagt, denn Magistra Broome war ein Mensch, den man nicht kränken durfte, und sie hatte – Magierin hin, Magierin her – ihre eigene Art von Konventionalität.
Wie Ishmael zu seiner Freude entdeckt hatte, schloss diese keine Scheinheiligkeit in puncto Sex ein. Am Tag vor seiner Abreise aus der Stadt, als er zur Beisetzung seines Vaters in die Grenzlande hatte zurückkehren müssen, erschien sie auf Magister Perrins Türschwelle. »Ich weiß nicht, wann ich wieder eine Chance bekommen werde«, erklärte sie und tat den ersten Schritt zu etwas, das er – peinlich spät – als Verführung erkannte. Es war das erste Mal, dass Ishmael jemals das Lager mit einer anderen Magierin geteilt hatte, und es war eine größere Offenbarung gewesen als sein erstes Mal überhaupt.
Die Erinnerung daran drohte Telmaine Hearne an die Oberfläche seiner Gedanken zu bringen. Das durfte in diesem Haus nicht geschehen. Die Kontrolle der ranghöheren Magier war exquisit und ihr Benehmen tadellos – weder Phoebe noch Phineas würden etwas anderes tolerieren –, aber da gab es immer noch die Schüler, die ihre Grenzen erprobten … Er schob die Erinnerung an sie sicher hinter das imaginäre Bild, mit dem er seinen Geist abschirmte.
Phoebe Broome ergriff seine Hände. Wie er trug sie Handschuhe, nicht zuletzt als Vorbild für die jüngeren Magier. In ihrem Fall handelte es sich um zarte Seidenhandschuhe, die ihre
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