Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
konnte doch nicht …« Telmaine mühte sich erschüttert, ihren Lapsus zu verbergen.
Olivede schüttelte den Kopf: »Sei nicht so entsetzt, Telmaine; man steckt sich mit Magie nicht an wie mit einer Erkältung.«
Neben ihr regte sich Balthasar und tastete mit einem zitternden Peilruf den Raum ab. »Telmaine? Ich spüre … etwas …«
Olivede beugte sich über ihn und strich ihm mit den Fingerspitzen über die Schläfen. Balthasar schlug ihre Hand weg. »Hör auf damit«, beklagte er sich, ganz jüngerer Bruder einer älteren Schwester.
»Du ruhst dich aus«, schalt sie ihn und nahm seine beiden Hände fest in eine ihrer Hände, während sie versuchte, ihn mit der Berührung ihrer anderen Hand ruhigzustellen.
»Wie spät ist es?«, fragte er und kämpfte gegen den Schlaf an. »Hat die Glocke schon geläutet?«
»Noch …« Sie brach ab.
Telmaine verspürte eine jähe, schockierende Leichtigkeit, ganz so, als hätten sich all ihre Knochen aufgelöst, als wäre ihr Fleisch verdampft, als sei sie kurz davor, durch die Risse in den Wänden gesogen und in die Nacht hinausgewirbelt zu werden. Sie keuchte auf, spürte, wie schon das bloße Einatmen sie vom Bett hob, und hielt sich Halt suchend am Bettzeug fest. Olivede sagte: »Grundgütige …« Der Rest der Beschwörung verklang ungehört unter einem Donnerschlag, der die Welt vom Firmament bis zum Innersten zu spalten schien. Amerdales Aufkreischen, als sie erwachte, war wie das Pfeifen eines Insekts. Schreiend warf sich das kleine Mädchen über ihren Vater, um zu Telmaine zu gelangen. Telmaine kniete sich auf, um ihre Tochter über Balthasar hinweg in die Arme zu ziehen, ohne ihm dabei wehzutun, und verlor beinahe ihr Gleichgewicht. Amerdale schlang Arme und Beine um sie und zog sie am Haar und an den Ohren. Olivede stand in halb gekrümmter Haltung da, einen bestürzten Ausdruck auf dem Gesicht, die Hand noch immer auf Balthasars Stirn. Erst als Balthasar versuchte, sich auf den Rücken zu drehen, und das Gesicht vor Schmerz verzog, weil seine Tochter ihn angestoßen hatte, fasste Olivede sich langsam. »Es ist ein W-Wetterzauber«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Die lichtgeborenen Magier haben einen Sturm heraufbeschworen. Hört euch den Hagel an …« Von den Außenmauern drang ein Geräusch wie das von vielen kleinen Steinen.
»Amerdale …«, sagte Balthasar.
»Sie hasst den Donner, die arme Kleine, ich weiß«, erwiderte Olivede mit klappernden Zähnen.
»Flori …«
»Flori ist nebenan, Bal«, sagte seine Schwester mit mühsamer Selbstbeherrschung. »Du hast mir immer e-erzählt, dass sie alles verschlafen könne.«
Balthasar war zu verwirrt, um die Lüge zu erkennen. »Warum tun sie das?«, fragte er.
»Was ist los mit ihm?«, wollte Telmaine wissen. Sie ergriff seine Hand und spürte seinen Schmerz und seinen inneren Aufruhr, den gleichen, der ihre Knochen zu verflüssigen drohte.
»Die Lichtgeborenen betreiben Wettermagie. Unberührbare Materie ist von allem am schwierigsten zu beeinflussen, daher müssen ein Dutzend Magier beteiligt sein. Diese gewaltige Anstrengung, diese Konzentration wird jeder mit der geringsten Empfänglichkeit für Magie spüren.«
Ein weiterer Donnerschlag. Amerdale kreischte in Telmaines Ohr und verstärkte den Würgegriff, mit dem sie den Hals ihrer Mutter umklammert hielt. Telmaine wiegte sie in den Armen, dankbar für das weinende Bündel, denn sonst hätte es sie in die Luft und hinaus in die Leere aus Wind und Macht getragen, die in ihrem Bewusstsein aufwallten. Hagelkörner prasselten gegen die Außenmauer und klapperten in den Rinnsteinen.
Olivede stöberte in ihrer Arzttasche und förderte eine handbeschriftete Phiole zutage, die sie in einen schlichten Becher leerte, bevor sie ein wenig Wasser hinzugoss. Sie stützte Balthasars Kopf und hielt ihm den Becher an den Mund. »Trink. Meine Magie ist nutzlos, bevor dies beendet ist, aber der Trank wird ein wenig helfen.«
»Müsst es Tercelle sagen, die Kinder …«, murmelte Balthasar und drehte den Kopf weg.
»Kleiner Bruder, das ist schon geschehen. Trink.«
»Ich habe ihnen nicht gesagt …«
»Ich glaube dir.« Sie drückte ihm den Rand des Bechers zwischen die Lippen. »Wirklich, man sollte meinen, du seiest ein dreijähriges Kind.« Er trank, prustete, trank abermals, und Flüssigkeit rann ihm aus den Mundwinkeln. Sie zwang ihn, den Becher zu leeren, und wischte ihm behutsam die Wangen ab. »Jetzt lieg still und lass den Trank wirken.« Sie wandte
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