Nachtgesang
Jake klar –, aber sie waren schwarz-weiß; sie flimmerten vor seinem geistigen Auge wie die Bilder eines uralten Stummfilms ... ruckartige Szenen und zuckende Marionetten. Und trotzdem hatte Jake das Gefühl, dass er einige von ihnen erkannte, und er hatte den Eindruck, sie durch die Augen eines anderen zu sehen:
Er schaute hinab auf eine von Geröll bedeckte Ebene, die von einem untergehenden Mond silbergrau erhellt wurde. Turmspitzen ragten in der Ferne in den Himmel voller Sterne aus Eis. Dieser fremdartige Himmel war bedeckt mit fliegenden Tieren seltsamer Gestalt ...! Gott, diese Wesen! Nicht von der Natur geschaffen, sondern geradewegs einem Albtraum entsprungen!
So schnell, wie das Bild gekommen war, war es auch wieder weg, verschwand und wurde von einem anderen abgelöst.
Ein Garten – der Garten? –, wo ein jüngerer Lardis neben einer Mauer stand und auf eine Szene völliger Verwüstung starrte. Die eingestürzten Flügel einer Windmühle waren schief auf einen skelettartigen, wackligen, hölzernen Turm zusammengesunken; ein paar Dächer flacher Steinhütten waren zusammengefallen; die Forellenteiche waren grün vor Algen und die Gewächshäuser ein einziges Gewirr aus zerborstenen Gerüsten, die schief standen oder flach auf dem Boden lagen, bedeckt von Schlingpflanzen, die sich ihren Weg durch die zerrissenen Plastikfolien bahnten.
Die Bilder flimmerten und verschwammen weiterhin, als sich der seltsam junge Lardis mit einem Ruck umdrehte und Jake anstarrte ... oder vielmehr denjenigen, der aus Jakes Augen zu ihm zurückstarrte.
In den Augen dieses nicht so alten Lidescis zeigte sich Angst, und in seinen Händen schwang er eine Schrotflinte, die sich Bild um Bild bewegte – klick, klickedi-klick – immer weiter in Jakes Richtung. Der Blick in Lardis’ Augen zeigte jetzt keine Furcht mehr, oder nicht nur Furcht, sondern Furcht gepaart mit tödlicher Entschlossenheit!
Abrupt änderte sich das Bild abermals:
Es zeigte das angespannte Gesicht einer hübschen Frau. Hübsch, ja, aber keineswegs wunderhübsch – und doch wunderschön, auf ihre Art. Ihr Körper war sicherlich wunderschön. Und Hände (Jakes Hände?) berührten ihre Brüste, die sich an sein Gesicht schmiegten. Ihr Atem war wie Feuer in seinen geweiteten Nasenlöchern (oder denen eines anderen?) und der Schweiß ihrer Leidenschaft so feucht und heiß auf seinen Händen wie der nasse Mittelpunkt ihrer Weiblichkeit, der sein zuckendes Fleisch umfing.
Nana?
»Nana!«, schrie Jake, als das Bild in der Erinnerung verblasste – aber seiner Erinnerung? – und er sich wieder vor dem Lagerfeuer sitzend fand, die Hände vor seinem Gesicht, vielleicht, um die Brüste der hübschen Frau zu liebkosen, oder vielleicht auch, um sich vor Lardis Lidescis Schrotflinte zu schützen. Nun, da war der alte Mann, sicher, aber jetzt wieder nur der »alte« Lidesci, wie ihn Jake kannte; und er hatte keine Waffe in der Hand, sondern ein seltsam zufriedener Ausdruck huschte über sein Gesicht.
»Es war Nana, nicht war?«, fragte Lardis, mit einem wissenden Nicken, als Jakes Gehirn sich allmählich wieder auf die Gegenwart einstellte und er langsam seine zitternden Hände sinken ließ. »Hab dich ein ziemliches Stück in die Vergangenheit katapultiert, stimmt’s, mein junger Freund?«
»Was ... was haben Sie mit mir gemacht? «,flüsterte Jake, die Worte kaum mehr als ein Seufzen.
»Ich habe das Blut eines sehenden Vorfahren in mir«, antwortete Lardis. »Es spürt Dinge auf. Und ich denke, dass es dich auch aufgespürt hat, Jake Cutter. Denn genau wie diese Gabe von meinen Vorfahren auf mich übertragen wurde, wurde etwas auf dich übertragen. Es ist in dir, Mann! Nicht in deinem Blut, wie es in Nestors und Nathans Blut war, sondern irgendwo in deinem Gehirn und deiner Seele versteckt, so viel ist sicher!« Der Blick des Zigeuners war voller Ehrfurcht.
»Es ist in mir, ja«, stimmte Jake ihm zu, denn er wusste, dass es so war. Und dann fügte er verzweifelt hinzu: »Aber was ist es, Lardis? Was ist es?«
Der andere schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Ben würde nicht wollen, dass ich dir mehr erzähle. Im Gegenteil, er würde mich jetzt schon schelten, dass ich zu viel gesagt habe! Alles zu seiner Zeit. Aber was da drin ist, wird auch herauswollen, so viel ist sicher. Und jetzt, gute Nacht, Jake Cutter.« Mit diesen Worten zog er sich zurück; wie ein wildes Tier verschwand er allmählich in der Nacht ...
Vielleicht war Jake zu müde gewesen, um zu
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