Nachtgespenster
habe es schon lange gewußt, aber ich kann nichts dagegen unternehmen. Es ist so schlimm geworden. Ich bin in tiefe Depression verfallen, deshalb möchte ich ja, daß ich endgültig sterbe und mich nicht immer bei Vollmond in eine Blutsaugerin verwandele.«
»Nur bei Vollmond?«
»In seinem Rhythmus. In der kommenden Nacht wird er am hellsten scheinen. Dann hat er seine größte Kraft erreicht, und er wird mich stark wie nie in seinen Bann ziehen. Dann hält mich nichts mehr. Dann muß ich das Blut haben. Gestern war es noch anders, glaube ich.« Sie schüttelte den Kopf. »Es fällt mir schwer, mich zu erinnern, weil ich das Grauen am liebsten verdrängen möchte. Aber es ist alles so, wie ich es dir gesagt habe, John.«
»Ja, das weiß ich.«
»Wirst du mich dann töten?« Bittend und ängstlich zugleich schaute sie mich an.
»Nein, Doreen, das werde ich nicht.«
»Aber ich werde dich angreifen. Ich werde dein Blut haben wollen. Ich werde mich in ein Tier verwandeln, das keine Rücksicht kennt. Das mußt du doch wissen.«
»Ich weiß es auch, Doreen.«
»Und?«
Mein Lächeln mochte überheblich wirken, war es aber nicht. »Du mußt dich nicht sorgen. Es wird andere Möglichkeiten geben, um dich im Zaum zu halten.«
»Welche denn?«
»Darüber werden wir später reden können, wenn es so weit ist.«
Sie war damit einverstanden, fragte aber: »Und was machen wir so lange, bis es…«
»Wir bleiben zusammen.«
»Ja, schön.«
»Sicherlich hast du mir noch einiges zu erzählen. Über deine Familie, zum Beispiel.«
Sie winkte ab.
»Das ist nicht viel.«
»Aber bestimmt interessant - oder?«
»Das mag schon sein«, gab sie zu.
»Komm, laß uns ein Stück gehen. Du kannst es dir ja noch überlegen, Doreen.«
Sie war einverstanden. Doreen ging neben mir her und hielt den Kopf dabei gesenkt. Ich hatte schon zuvor einen Baumstumpf gesehen, der sich als Sitzplatz eignete. Dorthin führte ich Doreen, und sie nahm Platz. Einen Moment später saß ich neben ihr. Doreen bat darum, meine Hand halten zu dürfen, was ich ihr gern erlaubte. Ihre eigene Hand war verschwitzt und trotzdem kühl.
»Ich habe Eltern wie sonst niemand auf der Welt«, fing sie mit leiser Stimme an. »Es ist furchtbar, John. Eine normale Mutter und einen Vampir als Vater.«
»Deine Mutter lebt nicht mehr.«
»Das stimmt. Aber ich besuche sie jeden Tag, wenn ich hier in der Nähe bin.«
»Du gehst auf den Friedhof.«
»Nein, in das Schloß.«
»Bitte?«
»Weil sie dort liegt.«
»In einer Familiengruft?«
»Nein, in einem Keller. Dort steht der offene Sarg. Ich habe ihn nicht geschlossen. Ich bringe oft Blumen mit und lege sie auf den Sarg.«
Ich mußte mich räuspern, weil ich mir etwas Bestimmtes vorstellte. »Deine Mutter liegt dort im Keller in einem offenen Sarg und ist dabei, zu verwesen?«
»Genau, John.«
»Und du gehst hin?«
»Ja. Ich will sie sehen. Auch wenn sie scheußlich aussieht, aber sie ist meine Mutter. Ich gehe nur in der Nacht hin«, sprach sie flüsternd weiter. »Dort kann ich ihren Anblick besser ertragen. Und immer nach der ersten Morgenstunde, wenn ich merke, daß mein anderer Zustand allmählich vorbeigeht.«
»Warum hat man deine Mutter nicht normal begraben?« erkundigte ich mich.
»Weil mein Vater es so wollte. Der Earl of La Monte ist ein gefährlicher Mann. Er setzt alles durch, was er will. Er existiert in seiner eigenen Welt. Dort will er alles so haben, wie er es sich vorstellt. Auch seine Frau.«
Ich runzelte die Stirn. »Kannst du mir erklären, was es mit der eigenen Welt auf sich hat?«
»Das Schloß.«
»Dort bleibt er?«
»Ja.«
»Er verläßt es nicht?«
»Stimmt. Er kann es nicht verlassen. Ein Fluch hält ihn fest. Er kann sich nur in seinem Schloß zusammen mit den Nachtgespenstern bewegen, die ebenfalls immer bei Vollmond erscheinen.« Sie lachte leise und schüttelte dabei den Kopf. »Mein Vater hat immer vom Reigen der Nachtgespenster gesprochen, John… Sie gehören zu ihm, und er gehört zu ihnen. Es müssen welche sein, die das gleiche Schicksal erlebt haben wie er.«
»Es steht fest, daß er seine Burg nicht verlassen kann?«
»Das ist richtig. Nur seine einzigen Freunde, die Fledermäuse, kann er schicken.«
»Die waren ja auch bei dir.«
»Stimmt. Er will auch über mich die Kontrolle behalten. Deshalb schickt er mir die Tiere nach. Durch ihre Sinne kann er die Botschaften empfangen, und so wird er sicherlich schon über dich Bescheid wissen, und daß ich mich
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