Nachtgieger
überschaubaren, ruhigen Kolonie am Kanal. Am liebsten fuhr sie jeden Tag bei Wind und Wetter mit ihrem alten, schwarzen Fahrrad, einem sogenannten „Gebbelrenner“, in ihr kleines Paradies. Sie trat kräftig in die Pedale und wunderte sich, dass die Fahrradfahrer heutzutage achtzehn Gänge benötigten, um vorwärtszukommen.
Um die gemütlich eingerichtete, winzige Schreberhütte erstreckten sich Gemüsebeete. Vor der überdachten Sitzecke, die in südlicher Richtung lag, blühten in eingefassten Rabatten Blumen in allen Farben. Es war ein schöner, friedvoller Fleck Erde. Mandy hatte Margarete schon einige Male dort besucht und sie hatten die Sonne auf einem schmalen Holzsteg am Wasser genossen.
Nun war, nach Margaretes fester Überzeugung, das Grauen in ihr Idyll eingedrungen. Am vorletzten Sonntag hatte die alte Frau an der Wand des Holzschuppens rechts neben der Tür, ungefähr in Augenhöhe, geheimnisvolle Buchstaben entdeckt, die ihr Angst einjagten. Sie sahen so aus, als wären sie mit einem spitzen Gegenstand in das weiche Holz geritzt worden.
Es waren fünf Großbuchstaben in deutscher Schrift, die senkrecht in einer Reihe angeordnet waren:
M
O
R
D
E
Margarete, die im Zweiten Weltkrieg Bombenangriffe in Luftschutzkellern überstanden hatte, war nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Sie hielt das Ganze nach reiflicher Überlegung für einen dummen Jungenstreich.
Als ihr jedoch, am Sonntag darauf, eine weitere Reihe mit Buchstaben, eingeritzt in das Holz, entgegensprang, radelte sie erschüttert zurück und holte Mandy.
Gemeinsam entzifferten sie die zweite Spalte.
ME
OH
RE
DE
ER
Mandy las vor: „Morde, ehe er… Was soll denn das heißen?“
Margarete verspürte entsetzliches Grauen. „Das könnte zum Beispiel heißen: ,Ich morde dich, ehe der nächste Mond, also er, aufgeht.‘ Oder ,Morden werde ich dich, ehe der Hahn kräht.‘“
„Margarete“, versuchte die Kommissarin sie zu beruhigen. „Ich glaube, jetzt geht deine Phantasie mit dir durch. Das steht doch da gar nicht.“
„Der Bösewicht ist wahrscheinlich noch nicht fertig, der kommt wieder, immer in der Nacht von Samstag auf Sonntag.“
Die Logik dieser Voraussage war nicht von der Hand zu weisen. Mandy überlegte, wie sie ihre Freundin beruhigen konnte. Da halfen nur konkrete Maßnahmen.
„Weißt du was, Margarete, ich übernachte in der Nacht von Samstag auf Sonntag in deiner Schrebergartenhütte und lauere dem Schurken auf. Wenn er kommt, schnappe ich ihn und bereite dem Spuk ein Ende.“
Margarete schaute sie mit grenzenloser Bewunderung an: „Das würdest du für mich machen?“
„Aber sicher, Margarete.“
„Das ist gefährlich.“
„Ach was, gar nicht.“
Die Kommissarin versicherte ihrer beunruhigten Nachbarin, dass es dabei bliebe und sie, wie vereinbart, Wache schieben würde. Dann rannte sie los.
Die Besprechung im Bamberger Polizeipräsidium war für acht Uhr angesetzt. Der Polizeiobermeisterin Sieglinde Salome Silberhorn fiel wieder die Aufgabe zu, für frischen, starken Kaffee und Gebäck zu sorgen. Da sie beschlossen hatte, gesünder zu leben und vor allem Kalorien zu sparen, hatte sie unterwegs auf dem Marktplatz frisches Obst besorgt und inzwischen auf einem flachen Teller einladend angerichtet. Ihre hungrigen Blicke schweiften zwischen einer gelben Banane und einem buttrig-zarten Schokocroissant hin und her.
Vier Leichen mittlerweile, aufreibende Ermittlungsarbeit ohne Ende, eine wichtige Teambesprechung jagte die andere. Der Kommissar übertrug ihr immer häufiger immens bedeutsame Arbeitsaufträge. Wie sollte so eine jämmerliche, krumme Banane diesem Energieaufwand gerecht werden? Sieglinde griff entschlossen nach dem Hörnchen.
Der Gerichtsmediziner Karl-Heinz von Hohenfels traf als nächster ein. Er trug seinen offenen weißen Kittel über einer grauen Hose und einem weißen Hemd. Seine Seidenkrawatte glänzte anthrazitfarben und war von feinen, hellgrauen Streifen schräg durchzogen. Er wirkte ein wenig übernächtigt. Soeben hatte er die Autopsie von Apollonia Vierheilig beendet. Trotzdem saß sein braunes Haar tadellos und ein Hauch von teurem Aftershave umgab ihn.
Er beschloss, Mandy zu fragen, ob sie Lust hätte, am Wochenende eine Wanderung mit ihm zu unternehmen. Er musste einmal raus aus dem gerichtsmedizinischen Institut, abschalten und sich in der Natur bewegen. Dringend!
Der Rechtsmediziner befestigte Fotos undUntersuchungsergebnisse bezüglich der
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