Nachtgieger
Sieglinde halbierte die pralle Frucht mit einem scharfen Küchenmesser, dann entfernte sie vorsichtig das Gehäuse aus den beiden Hälften.
Marlene hatte in der Zwischenzeit einen kleinen quadratischen Zettel vorbereitet und wühlte nun in einer Schublade nach einem roten Filzstift. Sieglinde weigerte sich nämlich kategorisch, das Papier mit ihrem eigenen Blut zu beschreiben. Das ginge entschieden zu weit. Sie war schließlich eine seriöse Polizeibeamtin. Alles hatte seine Grenzen. Marlene beschloss, dass in der heutigen, modernen Zeit ein Filzschreiber auch in Ordnung war.
Sieglinde schrieb mit zitternder Hand ihren Vornamen und den des attraktiven Fußballers Hansi Horlamus auf das Blatt, faltete es sorgfältig und stopfte es behutsam in das Apfelgehäuse. Die beiden Hälften steckte Marlene vorsichtig mit dünnen, biegsamen Zweigen eines Apfelbaumes zusammen. Es war ihr nicht gelungen, Myrtenholz aufzutreiben. Nachdem der Apfel zum Trocknen in den Ofen gelegt worden war, tranken die Freundinnen eine Tasse Kaffee und besprachen dabei ihren Plan noch einmal in allen Einzelheiten. Es durfte nichts schieflaufen.
Das Fußballtraining in der Ortschaft Ortspitz endete um halb acht. Danach begaben sich die Spieler in die Umkleidekabine, duschten, zogen sich an und versammelten sich dann gegen zwanzig Uhr in der Gaststätte des Sportlerheimes zum gemütlichen Umtrunk, Strategiebesprechung genannt. Marlene hatte gründlich recherchiert.
Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Sporttaschen, die mit den Namen der Spieler beschriftet waren, unbeaufsichtigt in der Kabine. Marlene würde vor dem Umkleideraum Schmiere stehen, während Sieglinde Salome Silberhorn sich rasch und unauffällig hineinschleichen und den Liebesapfel in der Tasche von Hansi Horlamus verstecken sollte. Ein perfekter Plan. Marlene war stolz darauf. Eine Umkleidekabine war schließlich ein öffentlich zugänglicher Raum. Ein Eindringen in Hansis Zimmer bei ihm zu Hause, um an sein Kopfkissen zu gelangen, hatten die Freundinnen nach langen, hitzigen Diskussionen wegen der enormen strafrechtlichen Brisanz verworfen.
Falls jemand Sieglinde in der Umkleidekabine entdecken sollte, was höchst unwahrscheinlich war, würde sie behaupten, die Damentoiletten zu suchen. Das Versteck des Liebesapfels zwischen den verschwitzten Kleidungsstücken des Fußballers war beinahe so intim wie unter seinem Kopfkissen. Der Zauber würde seine Wirkung entfalten, Marlene war sich dessen absolut sicher. Sieglinde keineswegs, aber nun gab es kein Zurück mehr.
Kurz nach zwanzig Uhr betraten die beiden Frauen das Sportlerheim von Ortspitz. Sie trugen unauffällige, bequeme Kleidung, Jeans, Turnschuhe, mit denen sie sich lautlos bewegen konnten, und dunkle Pullover. Vorher hatten sie sich mit einem Blick durch das Fenster der Gaststätte vergewissert, dass die Fußballer sich inzwischen dort eingefunden hatten. Ausladende Platten mit Käse- und Schinkenbroten und kühle Getränke wurden serviert und die Spieler machten sich, hungrig und durstig vom anstrengenden Training, sofort darüber her.
„Die Luft ist rein“, flüsterte Marlene verschwörerisch. „Nun geh schon, Siggi.“ Sie stellte sich lässig vor das Schwarze Brett und tat so, als ob sie sich für die zahlreichen Aushänge und Ankündigungen interessierte.
Sieglinde trat nervös in den Umkleideraum der Männer und suchte nach den Sporttaschen. Aufgereiht standen diese auf einer langen, schmalen Holzbank. Die Tasche von Hansi Horlamus hatte sie schnell ausfindig gemacht und vergrub hastig den Liebesapfel zwischen der feuchten Kleidung.
Sie wollte sich gerade aus dem Staub machen, als sie plötzlich ein Geräusch vernahm. Erschrocken fuhr sie herum. Ein nackter junger Mann trat aus der Tür des Duschraumes und rubbelte sich mit einem Badetuch den Rücken trocken. Als er die erstarrte junge Frau erblickte, stieß er einen durchdringenden Schrei aus und ließ vor Schreck sein Handtuch fallen. Dann versuchte er, mit beiden Händen seine Männlichkeit zu bedecken.
Sieglinde drehte sich um wie ein Derwisch und rannte so schnell sie konnte aus dem Raum und weiter aus dem Sportlerheim. Marlene folgte ihr erschrocken. Die Freundinnen sprangen in den Wagen und rasten mit quietschenden Reifen davon.
Hansi Horlamus, die runden Wangen noch schamrot, stand vor der niedrigen Holzbank und hielt ratlos einen verschrumpelten, rotbäckigen Apfel, aus dem grüne Zweiglein ragten, in der Hand.
Samstag, 21. September
Gegen
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