Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
Doch Esther winkte nur ab.
»Das Holz wird uns schon tragen, und wenn nicht, können wir uns wenigstens damit trösten, dass die Aussicht einen Absturz wert war.«
Womit sie zweifellos Recht hatte. Die Bucht unter ihnen beschrieb einen schön geschwungenen Bogen, der in einigen aufragenden Felsspitzen endete. Zwischen zwei Felszinnen ergoss sich ein Wasserfall, eigentlich nicht mehr als ein Rinnsal. Allerdings schlug das Wasser mit solcher Kraft auf den Sandstrand auf, dass sein Brausen auf der Terrasse zu hören war.
»Ich kann mir gut vorstellen, dass nur wenige Menschen von diesem Wasserfall wissen. Schon mit dem anbrechenden Frühjahr dürfte der Wasserlauf austrocknen«, sagte Esther, die in ihrer Begeisterung etwas ausstrahlte, das Adam deutlich mehr fesselte als jedes Naturwunder der Welt.
In diesem Moment knurrte Esthers Magen, und sie legte sich die Hand auf den Bauch. Eigentlich hätte Adam sich eine Bemerkung verkniffen, aber ihn lockte ihre leicht verschämte Reaktion. »Nicht, dass ich mich mit solchen Dingen besonders gut auskennen würde, aber ich hätte darauf getippt, dass dir das üppige Frühstück noch bis zur Kehle hochsteht.«
Esthers Wangen verfärbten sich rot. »Hältst du mich nun für maßlos?«
»Wegen deines Appetits auf Pfannkuchen mit Ahornsirup
ganz bestimmt nicht - höchstens für den anderen Appetit, den du während der letzten Nacht gezeigt hast.«
Kaum hatte Adam den Satz zu Ende gebracht, da deutete Esther bereits auf das morsche Geländer. »Sei besser vorsichtig mit deinen Frechheiten, ansonsten komme ich noch auf dumme Ideen und verpasse dir einen Schubs.«
»Das war doch als Kompliment gemeint«, erklärte Adam voll verletztem Stolz. Allerdings hielt er das Spiel nur einige Sekunden lang durch, dann legte er Esther mit einem breiten Lächeln den Arm um die Schultern, und sie gingen zu einer der Sitzbänke hinüber.
Eine leichte Dunstdecke lag gleichmäßig ausgebreitet über dem Himmel und milderte die ansonsten so kräftige Berührung der Sonne. Der Wind war zwar frisch, aber das Gebäude in ihrem Rücken bremste seinen Schwung, was Adam jedoch nicht daran hinderte, Esther schützend an seine Seite zu ziehen. Ohne Zögern schmiegte sie sich an ihn, und fast glaubte er, er würde eindösen, so beruhigend klang das Meeresrauschen zu ihnen hinauf. Er hätte nichts dagegen gehabt, seine Gedanken streiften zu der letzten Nacht ab und was sie für ihn bedeutete.
»Was hältst du davon, wenn wir heute Nachmittag nach einem Buchladen suchen?«, fragte er unvermittelt. »Versteh das jetzt bitte nicht falsch, aber ich habe seit siebzig Jahren kein Buch mehr angerührt. In einer Geschichte zu versinken, erschien mir zutiefst menschlich. Also genau das, was ich um jeden Preis von mir fernhalten wollte. Bis jetzt.«
Esther schmiegte sich noch enger in seine Umarmung. »Nach welcher Art Roman steht dir denn der Sinn?«
Adam zögerte. »Das kann ich dir nicht sagen. Ich werde mich wohl ausprobieren müssen.«
»Ich kann dir ein paar Tipps geben, wenn du möchtest. Mit Romanen kenne ich mich nämlich ein wenig aus.«
»Gern«, sagte Adam, während sich ein wohliger Schauer auf seinem Rücken ausbreitete.
Noch nie war er so nahe bei sich gewesen, als sei Esther das Heilmittel, an das er nie geglaubt hatte und das er nun wie durch ein Wunder in den Händen hielt. Nur ganz gleich, wie perfekt dieser Moment war, er konnte die Ahnung nicht abstreifen, dass ihm das Geschenk nur für kurze Dauer vergönnt war.Wenn ihn die letzten Jahrzehnte eins gelehrt hatten, dann, dass es ihm - anders als einem normalen Mann - verwehrt war, seines Glückes Schmied zu sein. In diesem Augenblick mochte es vielleicht den Anschein haben, als würde es ihm gelingen, das Steuerrad für immer in seine Gewalt zu bringen. Der Dämon ließ sich für eine Weile in die Tiefen seines Inneren verbannen, aber eines Tages würde er einen Weg finden, um seinen Herrschaftsanspruch erneut unter Beweis zu stellen. Was, wenn Esther sich in diesem Moment dann ebenfalls ohne Argwohn an seine Seite lehnte?
Unwillkürlich musste Adam an den Mann denken, aus dessen Obhut er Esther gerissen hatte. Dieser Hayden hatte auf den ersten Blick alle Eigenschaften eines gestandenen Mannes aufgewiesen. Obwohl er sich dagegen wehrte, zwängte sich ihm eine Vorstellung auf, wie Esthers Zukunft wohl ausgesehen hätte, wenn er nicht auf der Bildfläche erschienen wäre, um alles durcheinanderzubringen. Eine ruhige Zukunft voller
Weitere Kostenlose Bücher