Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
und Ängsten, halbgaren Erklärungsansätzen und wild gemischten Erinnerungsschnappschüssen aus ihrer Kindheit, von schönen Kleidern in Auslagen und ihrem ersten Eindruck, als sie von Deck des Schiffes die Skyline der größten Stadt Amerikas betrachtet hatte. Als könnte sie all diese Streifen zusammenhalten, presste sie ihre Hand auf die Brust, wohl wissend, dass ihr nichts mehr half. Denn einer der Streifen, in die ihr Leben zerrissen worden war, trug Anders’ Namen und züngelte rot wie eine Flamme. Es brauchte nicht viel, und die Feuerzungen würden so rasant auf die anderen Streifen überspringen, dass eine Feuersbrunst ausbrach und nichts als Asche zurückließ.
»Was geschehen ist, passt überhaupt nicht zu dem Anders, den ich kenne«, brachte sie zögernd hervor. Wie sollte sie es Adam nur erklären?
Adam entging ihre Unsicherheit nicht. Er kniete vor ihr nieder und nahm ihre Hand - eine so ritterliche Geste, dass Esther fast geschmunzelt hätte. »Zu dem charmanten Kerl, der sich am liebsten auf der Sonnenseite des Lebens sieht? Ich vermute, wir werden uns beide damit abfinden müssen, dass Anders deutlich mehr als nur diese eine helle Seite zu bieten hat. Das fällt auch mir schwer, ich mochte ihn nämlich.« Durch die Art, wie Adam das sagte, klang es wie ein schwerwiegendes Geständnis. Schließlich verschenkte er seine Sympathie nur widerwillig.
»Trotzdem verstehe ich nach wie vor nicht, wann er hinter mein Geheimnis gekommen ist. Er hat nie auch nur eine Andeutung
fallenlassen. Und noch weniger begreife ich, warum er sich überhaupt die Mühe gemacht hat, es aufzudecken.«
»Es geht also um ein Geheimnis … aus deiner Vergangenheit?« Adams klar gezeichnete Augenbrauen zogen sich beim Nachdenken zusammen. »Zu sagen, dass er sich für deine Vergangenheit interessiert, weil du seine Dienerin bist, würde als Erklärung vermutlich nicht ausreichen. Mir fehlen zwar noch ein paar Puzzleteilchen, aber ich behaupte, dass Anders sehr weit geht, um sein sonniges Los Angeles zu schützen. So weit, dass er auch diejenigen wie einen Feind behandelt, die eigentlich auf seiner Seite stehen. Wenn er sie dann nicht im Guten an sich binden kann, scheut er offensichtlich auch nicht vor anderen Methoden zurück. Erpressung zum Beispiel, wie bei dir.«
»Du bist dir bei allem, was du tust, immer so sicher, Adam. Du lebst ganz in der Gegenwart, aber mir ist das unmöglich.«
»Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann wäre es genau der: eine Vergangenheit zu haben, die mir gehört. Ein Leben, das Spuren hinterlässt. Spuren, die meinen Weg in die Zukunft beeinflussen. Alles, was ich bislang getan habe, gehört dem Dämon, ist einzig und allein auf ihn ausgerichtet gewesen. Seit du da bist, hat sich das geändert. Ich schulde dir etwas, Esther, und zwar mehr, als du dir vorstellen kannst.Also sag mir, was Anders in der Hand hat, womit er dich beherrschen kann. Dann werde ich alles Erdenkliche tun, um es zu ändern.«
Esther stieß ein heiseres Lachen aus, während ihr gleichzeitig Tränen in die Augen stiegen. »Vermutlich ist es ohnehin zu spät, und es läuft auf dasselbe hinaus, ob ich es dir nun erzähle oder nicht. Es wird dir nicht gefallen, so viel steht schon einmal fest.«
»Vielleicht fällt es dir leichter, wenn du dir vor Augen hältst, wem du es erzählst: jemandem, der einen Dämon in seinem Inneren trägt und ihm jahrzehntelang willig gedient hat.«
Kurz blitzte etwas über Adams Züge, als stelle ihm eine innere Stimme in Abrede, jemals freiwillig gedient zu haben. Dann presste er die Lippen aufeinander, als wolle er der inneren Stimme keine Antwort zugestehen. Diese kleinen Aussetzer hatte Esther schon einige Male bei ihm beobachtet, und unter anderen Umständen hätte sie nachgefragt, was in diesen Momenten in ihm vorging. Aber jetzt war sie zu erschöpft und stand unter zu großem Druck.
»Jedenfalls«, nahm Adam den Faden wieder auf, »brauchst du dir gerade bei mir keine Sorgen darum zu machen, dass mich irgendetwas, das du in der Vergangenheit getan hast, zurückschrecken ließe. Das Einzige, was mich bedrückt, ist, dass du es mir nicht einfach erzählt hast.«
»Weil es mir unmöglich war. Ich musste es hinter mir lassen, wie eine alte Haut abstreifen. Hat ein Mensch denn kein Recht auf echten Neuanfang?«
»Ich dachte, als du Irland verlassen hast, sei das der Neuanfang gewesen …«
»Das dachte ich anfangs auch, aber dann hat sich herausgestellt, dass wir das Elend nicht hinter
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