Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
Hauptraum ihre versteinert dastehende Mutter. Sie wollte gerade zu ihr treten, da packte Niall sie fest am Oberarm und führte sie aus dem Haus ihrer Kindheit, ohne ihr einen Blick zurück zu gestatten.
Draußen wartete Dillon auf sie. Kreidebleich, als hätte jemand sein inneres Feuer gelöscht. Als er seine Schwester sah, flammte es jedoch sofort wieder auf. »Auf geht’s!«, sagte er und lief los und sie ihm hinterher, während Niall ihnen wie ein Schatten folgte.
Während der vielen durchweinten Nächte der Überfahrt hatte Eistir oft über diesen Moment nachdenken müssen. Ein Teil von ihr hasste Niall dafür, weil er nicht zugelassen hatte, dass sie sich von ihrer Mutter verabschiedete, ein anderer Teil akzeptierte seine Entscheidung. Es war wie bei dieser biblischen Geschichte, in der man zur Salzsäule erstarrt, sobald man zurückblickt. Wenn einem ein neues Leben angeboten wird, durfte man nur nach vorne schauen. Diese Lehre hatte Eistir mehr verinnerlicht als jede andere.
Nachdenklich starrte Eistir auf die nächtliche Stadt und widerstand dem Verlangen, nach der alten Narbe unter ihrem Auge zu tasten. Obwohl es ihr schwerfiel, warf sie ihre plötzlich aufgekommene Traurigkeit ab und beschloss, Dillon lieber noch ein wenig zu ärgern.
»Du stehst ja immer noch hier draußen, anstatt nach deiner geliebten Caitlin zu sehen. Dieser bullige Geschäftsfreund von Niall hat sie vorhin schon ausgiebig begutachtet. Du solltest dich also besser sputen. Männer, die nur den Lohn eines Hafenarbeiters aufweisen können, müssen schon mit Anwesenheit glänzen, wenn sie ein schönes Ding wie Caitlin halten wollen.«
»Du bist wirklich ein böses Mädchen«, sagte Dillon, was bei ihm wie ein Kompliment klang. Er stellte sich dicht hinter sie und legte ihr sein Jackett um die Schultern. Zwar war es eine schöne Sommernacht, doch auf dem Dach des Hochhauses war wegen des Windes davon wenig zu spüren. Bis eben hatte Eistir gar nicht bemerkt, dass sie in ihrem Abendkleid und der dünnen Stola fror.
»Was treibst du bloß allein hier draußen, Schwesterherz?«
»Wie kann man zwanzig Stockwerke hoch über der Stadt stehen und so eine dumme Frage stellen? Ich brauche mir die Häuser mit ihren erleuchteten Fenstern nur anzusehen, dann ist es fast so, als könne ich das Leben bereits greifen, das ich mir aufbauen werde. Am liebsten sind mir die Ateliers und Bürofluchten, wo Dinge getan werden, die sich nicht auf so unmittelbare Angelegenheiten wie das Kochen der nächsten Mahlzeit oder aufs Bettenmachen beziehen. Da will ich hin.«
»Wäre es für dein Geschlecht nicht eher angemessen, sich nach einem netten Häuschen imVorort zu sehnen?«, fragte Dillon scheinheilig, was ihm einen Ellbogenknuff in die Magengegend einbrachte. Mit übertrieben schmerzverzerrtem Gesicht rieb er sich die getroffene Stelle. »Wenn du nicht so widerspenstig wärst und jedem unter die Nase reiben würdest, dass
du fest entschlossen bist, es in dieser Stadt aus eigener Kraft zu etwas zu bringen, dann würde vielleicht sogar ein Kerl mit einem Apartment mit Blick auf den Park bei dir anbeißen.« Dieses Mal war Dillon darauf gefasst und wich ihrem Ellbogen geschickt aus. »Vielleicht irre ich mich, aber ich glaube, Niall hat sogar schon einen passenden Anwärter für dich ausgewählt. Ganz nach der amerikanischen Sitte, nicht auf die Herkunft, sondern auf den Geldbeutel achtend.«
»Komm mir jetzt nicht mit Niall.«
Wie immer gelang es Eistir nicht, den verletzlichen Ton aus ihrer Stimme zu verdrängen, wenn sie von ihrem ältesten Bruder sprach. Niall war die Achillesferse in ihrem neuen Leben, denn sie wusste, dass sie sich ihrem willensstarken Bruder würde widersetzen müssen, wenn sie tatsächlich ihren eigenen Weg gehen wollte. Doch sich gegen Niall aufzulehnen, bereitete ihr beinahe körperliche Schmerzen. Obwohl er oft unnahbar war, verband sie eine Liebe, die sich nicht mit gemeinsamen Glücksmomenten oder geschwisterlicher Zuneigung erklären ließ. Niall wohnte etwas von einem dunklen Traum voller Abgründe inne, vor dem man sich fürchtete und den man zugleich niemals aufgeben wollte. Weil die Dunkelheit einen auf eine ganz besondere Weise in den Bann schlug. Ganz anders als Dillon, der sie allein mit seinem Lachen wärmte.
»Warum, bist du wieder einmal mit Niall aneinandergeraten?«
»Aneinandergeraten kann man nur mit jemandem, den man als echtes Gegenüber wahrnimmt. Für Niall bin ich kein Gegenüber, sondern nur seine
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