Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
nicht mehr als ein Mann, der eine unbändige Wut hegte, wie die weiß aufblitzende Narbe unter Eistirs Auge auch nach Jahren noch bewies.
McKenna hatte seine halbwüchsige Tochter dabei erwischt, wie sie sich an den Schminkutensilien ihrer Mutter bediente, die aus nicht mehr als zwei Farbdosen und einem fast aufgebrauchten Lippenstift bestanden. Niemand wusste, wie ihre Mutter sie überhaupt erstanden hatte. Keine der anderen Frauen im Dorf schminkte sich, eben weil man es nicht tat. Und vielleicht auch, weil der einzige Laden nicht einmal eine ordentliche Gesichtscreme führte. Obwohl über McKennas zurechtgemachte Frau im Ort getuschelt wurde, hatte ihr Vater es nach jahrelanger Zankerei aufgegeben, seiner Frau das Schminken auszutreiben.Ansonsten mochte er sich mit seinen Fäusten stets durchsetzen, aber hier war sie unnachgiebig geblieben.
Eistir hatte sich verträumt den dunkelblauen Lidschatten aufgetragen, weniger aus dem Bedürfnis, sich herauszuputzen, sondern weil die Farbe auf magische Weise ihr Gesicht veränderte. Das Blau verband sich mit dem Grau ihrer Augen, so dass sie an das Meer denken musste.
»Ich bin eine Meerjungfrau«, flüsterte sie und konnte dabei den Blick nicht vom Spiegelbild über der Waschkommode abwenden.
Wie lange ihr Vater bereits in der Tür gestanden und sie beobachtet hatte, konnte sie später nicht sagen. Sehr lange gewiss nicht, denn sein Zorn kochte viel zu schnell über.
»Eistir«, stieß er heiser vor Rage aus. Dann packte er sie am Nacken. »Was tust du da? Dich wie eine Hure anmalen?«
Nein, nur spielen, Papa , wollte sie ihm antworten, doch der Griff in ihrem Nacken war so schmerzlich fest, dass sie nur ein Wimmern hervorbrachte.
Ihr Schweigen nahm ihr Vater nur allzu bereitwillig als Eingeständnis seiner wüsten Vermutungen an. In der einen Sekunde gab er ihren Nacken frei, in der nächsten verpasste er ihr einen groben Schlag gegen den Hinterkopf.
Eistir schlug mit dem Gesicht auf die Kommode auf, wo der offene Porzellantiegel mit dem Lidschatten stand. Die scharfe Kante grub sich tief in die Haut unter ihrem linken Auge. Dabei verspürte Eistir keinen Schmerz, sondern hatte merkwürdigerweise nur das Bild im Kopf, wie jemand eine Messerklinge in Schnee trieb. Als sie sich benommen aufrichtete, sah sie zunächst nur einen weißen Streifen, der sich dann rapide mit Blut füllte, während sie immer noch nicht begriff, was eigentlich geschah.
In der Zwischenzeit hatte ihr Vater den Arm bereits zum nächsten Schlag erhoben, doch er fuhr nicht herunter. Ihr älterer Bruder Niall, selbst schon fast ein Mann, hatte ihn gepackt.
»Das wirst du nicht tun«, sagte Niall seinem Vater mit seiner eindringlichen, oftmals sogar einschüchternden Stimme, und dabei fing seine gerade verheilte Lippe wieder zu bluten an.
Am Tag zuvor hatte McKenna nämlich feststellen müssen, dass sein ältester Sohn nicht länger gewillt war, als Blitzableiter für seine Wutausbrüche herzuhalten. Niall war grün und blau geschlagen aus diesem Kräftemessen hervorgegangen, aber sein alter Herr ebenfalls.
»Bist du noch da? Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt, als ich dich aus dem Haus geworfen habe.«
»Mehr als klar«, erklärte Niall. »Ich hole nur, was mir gehört. Eistir, geh und pack deine Sachen, ich nehme dich mit.«
Ohne zu zögern, sprang Eistir auf und drückte sich an ihrem Vater vorbei, der sie mit hasserfüllten Augen ansah, während ihr das Blut über ihre eiskalten Wangen lief. Im letzten Moment langte ihr Vater nach ihrem Arm, doch sie entkam ihm mit einem leisen Aufschrei.
Während sie ihre wenigen Habseligkeiten zusammenpackte, hörte sie Niall sagen: »Ich nehme nur, was du nie gewollt hast. Dillon und Eistir gehen mit mir, denn ich habe begriffen, dass du sie lieber totschlagen wirst, als ihnen dabei zuzusehen, wie sie zu glücklichen Menschen werden.«
»Und ausgerechnet an deiner Seite sollen die beiden glücklich werden?«, gab ihrVater bestimmt zurück. »Dafür bist du mir viel zu ähnlich, mein Sohn. Alles, was du anfasst, zerfällt zu Asche.«
»Wir werden sehen.«
Dabei wohnte Nialls Stimme eine Resignation inne, dass Eistir ihre Sachen fast wieder in den Schrank zurückgelegt hätte. Letztendlich siegte ihre Sehnsucht nach einem anderen Leben und auch ein Stück weit ihre Liebe zu ihrem düsteren, oft abweisend wirkenden Bruder, der sie tatsächlich mitnehmen wollte. Als sie mit ihrem schmalen Bündel auf den Ausgang zuhielt, bemerkte sie im
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