Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
gerechnet hatte, aber ihre Zunge verweigerte ihr nach wie vor den Dienst, und eine Umarmung hätte sie in diesem Moment noch nicht ertragen.
»Das ist eine sehr traurige Geschichte«, sagte Adam mit einer Ruhe, die sich auf sie übertrug.
»Geschichten über Tote, die man geliebt hat, sind immer traurig. Und es ist grausam, sie fortsperren zu müssen, damit man weiterleben kann.«
»Niall ist also auch …«, setzte Adam an, konnte den Satz jedoch nicht zu Ende bringen.
»Das Urteil bei Polizistenmördern steht von vornherein fest.« Esther widerstand dem Bedürfnis, ihre zitternden Händen unter den Oberschenkeln zur Ruhe zu bringen. »Nach seiner Hinrichtung habe ich meine Vergangenheit ein zweites Mal abgelegt, gemeinsam mit der irischen Variante meines Namens. Eistir … Dieser Name fühlt sich ganz fremd auf meiner Zunge an. Ich habe alles hinter mir gelassen, als ich nach Kalifornien gezogen bin, weil es ansonsten auch mich getötet hätte. Ich konnte keine Sekunde länger Eistir McKenna sein. Zumindest dachte ich das. Aber ein Zettel, auf dem eine Adresse geschmiert stand, hat mich wider besseres Wissen mit in mein neues Leben begleitet. Anders hat es herausgefunden und ist der Spur zurück in die Vergangenheit gefolgt.«
Einen Augenblick lang war der Druck, der auf Esthers Kehle lastete, so groß, dass sie zu ersticken befürchtete. Qualvoll strich die Zeit dahin, und als Adam entschlossen nach ihrer Hand griff, wies sie ihn dieses Mal nicht ab. Sie brauchte seinen Trost, und noch mehr: Nach allem, was in den letzten zwölf Stunden geschehen war, brauchte sie seine Hilfe.
»Auf dem Zettel hatte Caitlin mir die Adresse ihrer Familie in Irland aufgeschrieben. Sie ist nämlich noch im selben Herbst zurückgekehrt. Was hätte sie auch anderes machen sollen, schwanger und ohne Mann? Ich konnte ihr damals leider nicht helfen, ich wusste selbst kaum, wo mir vor lauter Trauer und Verzweiflung der Kopf stand. Wäre Niall nicht gewesen, hätte ich sie vielleicht begleitet, aber so? Ich wollte ihn dieses letzte Stück des Weges nicht allein gehen lassen, obwohl er meine Besuche stets verweigert hat. Er hat nach seiner Festnahme einfach
so getan, als wäre er schon tot. Er wollte, dass ich weitergehe, ohne zurückzublicken.Aber das konnte ich erst, nachdem er hingerichtet worden ist.«
Erneut schnürte sich Esthers Kehle zu, bis sie kurz davor war, ihren bleiernen Kopf sinken zu lassen und sich nie wieder aufzurichten. Es war unfassbar schwer, die Vergangenheit so nah an sich heranzulassen.Trotzdem wohnte der Erzählung Trost inne, als würde sie trotz der Schmerzen ein verlorenes Stück ihres Selbst zurückgewinnen.
»Erst nachdem ich bereits einige Zeit für Anders arbeitete, wagte ich es, Caitlin zu schreiben. Ich musste wissen, was aus Dillons Kind geworden ist, obwohl es Nialls Überzeugung widersprach, dass man nicht zurückblicken darf.«
»Anders weiß also von diesem Kind?«
Esther musste die Augen fest zusammenkneifen, um sich auf diesen Part konzentrieren zu können. Ihre Gedanken wollten nämlich bei dem Jungen bleiben, den sie sich bereits unzählige Male in ihrer Fantasie vorgestellt hatte, stets mit Dillons berühmtem strahlenden Lächeln. CaitlinsVersuch, einen regelmäßigen Briefkontakt aufzubauen, damit sie ihr von den Entwicklungen des Kindes berichten konnte, hatte Esther schleunigst unterbunden. Zu groß war ihre Sorge gewesen, die Mauer zwischen sich und Eistir könnte zu bröckeln anfangen, wenn dieses Kind in Irland mehr als eine vage Vorstellung war. Spätestens, wenn Caitlin ihr ein Foto geschickt hätte, hätte sie zweifelsohne sämtliche Vorsätze über Bord geworfen und wäre auf die grüne Insel zurückgekehrt. Aber das war ganz und gar unmöglich. Sie schuldete ihren Brüdern ein anderes Leben.
Mühsam atmete Esther tief ein, bis sie den Druck in ihrer Brust ausgeglichen hatte. »Allem Anschein nach weiß Anders es schon länger. Frag mich nicht, woher, er hat mir gegenüber niemals auch nur eine einzige Andeutung gemacht. Ich vermute, dass ihn jemand bei der Bank über meine Geldgeschäfte
auf dem Laufenden gehalten hat. Ich unterstütze Caitlin finanziell. Mehr kann ich nicht für sie tun.«
Es fühlte sich wie eine Befreiung an, diese Dinge zu offenbaren. Dabei hatte Esther niemals darauf gehofft, mit jemandem darüber sprechen zu können. Unwillkürlich stellte sie sich vor, wie Hayden wohl auf ihre Lebensgeschichte reagieren würde: Auch er war kein Mann, der vor
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