Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
tragen.«
Unwillkürlich fuhr Eistirs Hand zu dem strengen Knoten an ihrem Hinterkopf, als wolle sie das Haar lösen, um den zärtlichen Tonfall in der Stimme ihres Bruders noch einmal hervorzurufen.
Dillon lachte. »Oder du kaufst dir ein Paar Handschuhe, dann laufen deine Finger auch nicht mehr vor Kälte blau an.«
Dillons gute Laune blühte mit jedem Moment mehr auf, während Nialls Blick auf das Ladeninnere gerichtet war, wo sich nach und nach die Männer aus ihrer Spielrunde an der Theke einfanden. Mittlerweile war es ihm ein Dorn im Auge, wenn Eistir sich im Dunstkreis seiner Freunde aufhielt. Seit sie
ihre Ausbildung abgeschlossen hatte, sah er seine Schwester nicht mehr an der Seite eines Landmanns, der sich am Hafen verdingte oder gar ganz anderen Geschäften nachging. Der Gedanke an die Werbeagentur gefiel ihm immer besser. Studierte Männer aus ordentlichen Familien.Von ihnen dreien standen die Chancen für Eistir in dieser Stadt am besten, und er würde nicht zulassen, dass sie sie nicht wahrnahm.
»Ach, kommt schon, Jungs«, bettelte Eistir. »Lasst euch von mir ins Kino einladen. Das habe ich mir doch verdient.«
Augenblicklich nahm Niall sie ins Visier. »Geht es hier um eine Einladung oder darum, zu beweisen, dass du endlich diese elende Selbstbestimmtheit erreicht hast, mit der du uns ständig in den Ohren liegst?«
»Niall, nun sei doch nicht so«, mischte Dillon sich ein. »Was spricht denn gegen einen Kinobesuch? So grau, wie du um die Nase bist, kann dir ein wenig Abwechslung nur guttun.«
Zunächst sah es so aus, als würde Niall zu einer seiner strengen Erwiderungen ansetzen, aber dann lenkte er ein. »Meinetwegen. Aber dann etwas Trauriges, etwas mit Seele. Eine von diesen amerikanischen Komödien könnte ich jetzt nicht ertragen.«
Als die Geschwister das Kino verließen, war es bereits tiefste Nacht. Doch in den Straßenschluchten von New York spielte das keine Rolle, die Dunkelheit wurde von unzähligen Lichtern und Leuchtreklamen verdrängt. Mit einem wohligen Schaudern dachte Eistir an die Schwärze, die sich vom Herbst bis ins Frühjahr hinein über ihren Hof in Irland gelegt hatte. Undurchdringlich, gerade so, als würde sie nach einem greifen. Da mochte das Kunstlicht, das durch die fadenscheinigenVorhänge ihres Apartments drang, ihr den Schlaf rauben, aber sie war sich sicher, niemals wieder woanders als in einer Großstadt leben zu wollen.
Dillon legte ihr einen Arm um die Schultern, als sie vor dem pompösen Eingang des Kinos stehen blieben, in das selbst zu dieser Stunde noch neue Gäste strömten. Niall stand leicht abseits von ihnen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Er konnte es nicht ausstehen, dass in den Vorführsälen geraucht werden durfte, weil der Qualm die Bilder mit einem grauen Schleier überzog. Immer wieder musste Dillon während derVorführung beruhigend auf ihn einreden, damit er die rauchenden Gäste nicht übermäßig anmaulte.
Nach wie vor beschäftigte es Eistir, wie zwei Brüder bloß so unterschiedlich und gleichzeitig vertraut miteinander sein konnten. Wie sie selbst in dieses Dreieck passte, war ihr ohnehin ein Rätsel. Die Vorstellung, dass Dillon ihnen verlorenging, sobald er eine Bleibe für die schwangere Caitlin und sich gefunden hatte, bereitete ihr ordentliches Magengrimmen. Wie sollte es ihr gelingen, den aufbrausenden Niall allein in der Balance zu halten? Obwohl er es ihr alles andere als leichtmachte, war sie Niall genauso zugetan wie Dillon. Hätte man sie vor die Wahl gestellt, dann hätte sie tatsächlich nicht sagen können, wen von beiden sie eigentlich bevorzugte.
»Ich muss zugeben, im Nachhinein bin ich unglaublich froh, dass Niall uns in diesen alten Schinken über Tristan und Isolde geschleppt hat. Der Ausdruck auf seinem Gesicht, als es Tristan dahingerafft hat, war es absolut wert. In Nialls Brust wohnt eben die schöne Seele eines Romantikers - er kann sogar bei sterbenden Engländern mitleiden.«
»Das habe ich gehört«, sagte Niall, wobei er bei jedem Wort Rauch ausstieß. Zur allgemeinen Überraschung brachte er tatsächlich ein Lächeln zustande, das Eistir niemals vergessen sollte. Mit einer lässigen Bewegung schnippte er die Zigarettenkippe in den Rinnstein und schlenderte zu ihnen hinüber. Ehe er sie jedoch erreichte, legte sich eine Hand auf seine Schulter.
»Niall McKenna. Dachte ich mir doch, dass ich richtig gesehen habe.« Der hochgewachsene Polizeibeamte nickte seinem Kollegen zu, der keine
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