Nachtglut: Roman (German Edition)
statt des schwarzen Trauerkleids ein Kettenhemd. Ihre Augen versteckten sich hinter einer dunklen Brille, das Gesicht darunter war blaß und abgespannt.
»Wie geht es Ihnen?« fragte er.
Okay, gab sie ihm zu verstehen.
»Sie haben praktisch keinen Moment Ruhe gehabt, seit Sie vor zwei Tagen ins Krankenhaus gefahren sind. Warum gehen Sie nicht rein und legen sich hin? Nehmen Sie sich den Nachmittag frei. Ich paß schon auf David auf.«
Sie antwortete mit Zeichen, die Jack nicht verstand. Er bat David, sie ihm zu übersetzen. Mit einer Hand an der Leiter hängend, schirmte der Junge mit der anderen seine Augen gegen die grelle Sonne ab. »Sie sagt, das ist nett von dir, aber als erstes muß ich rein und mich umziehen.«
»Richtig.« Jack packte den Jungen um die Körpermitte und schwang ihn von der Leiter. »Okay, rein mit dir! Und wenn du fertig bist, treffen wir uns hier. Dann kannst du mir helfen. In Ordnung?«
»In Ordnung, Jack.«
»Und laß deine Sachen nicht im ganzen Zimmer rumliegen. Räum sie weg, deiner Mama zuliebe.«
»Mach ich.« Er rannte ins Haus und schlug krachend die Tür hinter sich zu.
»Herrlich, so viel Energie zu haben«, bemerkte Jack, als er sich wieder Anna zuwandte.
Abwesend nickte sie.
Er lüftete seinen Hut und wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch. »Diese Hitze ist unglaublich, nicht? Wär schön, wenn’s wieder mal regnen würde.«
Banalitäten. Aber er wußte nicht, was er sonst sagen sollte. Wie gern hätte er sie getröstet – aber jegliche Form von Nähe war leider gefährlich. Eigentlich wollte er fragen, wie die Beerdigung gewesen sei; aber dann würde sie vielleicht antworten, wenn ihn das so sehr interessiere, hätte er ja teilnehmen können. Besser, es nicht darauf ankommen zu
lassen… blieben also nur lahme Bemerkungen über das Wetter. –
Den ganzen Morgen bei der Arbeit hatte er sich den Kopf zerbrochen, was er tun sollte, und war schließlich zu dem Ergebnis gelangt, daß er weg sein sollte, wenn Anna und David von der Beerdigung heimkämen. Das wäre das Beste. Einen klaren Schlußstrich ziehen. Kein großer Abschied. Keine Erklärungen, warum er ging oder warum er überhaupt gekommen war. Vielleicht ein kurzer Brief, um ihnen alles Gute zu wünschen und Lebwohl!
Ja, so wollte er es handhaben. Aber zum Kuckuck, er konnte nicht gerade in dem Moment verschwinden, in dem sie Delray begruben. Die Herbolds hatten ihren Schwiegervater gehaßt – aber das hieß nicht unbedingt, daß Anna und David nun außer Gefahr waren. Nein, einfach abhauen kam nicht in Frage. Jedenfalls nicht, bevor Cecil und Carl wieder in sicherem Gewahrsam waren.
Trotzdem hättest du dich nicht gleich mit Old Spice einsalben und ihre Einladung zum Essen annehmen müssen, sagte er sich, als er durch die Hintertür ins Haus trat und sich beinahe das Genick brach, als er über die Schwelle stolperte …
In der Küche deckte David gerade den Tisch. Anna, die selbst ein wenig nervös schien, lief hin und her, um Schüsseln und Platten auf der altmodischen Kredenz aufzubauen. Sie bedeutete Jack, daß er sich einfach bedienen solle, und reichte ihm einen Teller.
Die Großzügigkeit der Leute, mit denen Delray nicht einmal befreundet gewesen war, verblüffte ihn. So viel nachbarliche Großmut und Gebefreudigkeit hatte er noch nie erlebt. Während er sich vom Kartoffelsalat und von den eingelegten Gurken nahm, vom Brathuhn und geschmorten Schinken mit Nelken, dachte er an den Tod seiner Mutter. –
Er war in Baytown aufgewachsen, einem Städtchen an der Bucht, gegenüber von Galveston. Seine Mutter hatte jeden
Tag zehn Stunden oder länger in einer Reinigung gearbeitet, um den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn zu verdienen. Wenn sie abends nach Hause gekommen war, hatte sie meist nur in aller Eile etwas gegessen, um dann sofort zu Bett zu gehen. Manchmal hatte sie sich in den Schlaf geweint. Das Gefühl der Hilflosigkeit, das er angesichts des offenkundigen Elends seiner Mutter stets empfunden hatte, gehörte zu Jacks frühesten Erinnerungen.
Am Sonntag, ihrem einzigen freien Tag in der Woche, pflegte sie auszuschlafen. Nach dem Aufstehen erledigte sie die liegengebliebenen Hausarbeiten und kaufte für die kommende Woche ein. Immer ging sie früh zu Bett, um für den nächsten Tag frisch zu sein. Der zermürbende Alltag ließ kaum Zeit für andere Dinge. Nur selten unternahm sie mit ihrem Sohn etwas rein zum Vergnügen. Der Kampf ums Überleben kostete sie ihre gesamte Kraft
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