Nachtglut: Roman (German Edition)
widersprüchlicher Versionen über den Ausbruch des Kampfes zu hören bekommen. Jeder Versuch, die Wahrheit zu ergründen, wäre nichts als eine Verschwendung von Zeit und Arbeitskraft. Er begnügte sich deshalb damit, den Leuten zu befehlen, sich in ihre Zimmer zu begeben und ihren Rausch auszuschlafen.
Cecil wollte Carl wegschleppen, aber Carl wehrte sich. »Hey, Sheriff, sehen Sie ab und zu mal unseren Stiefvater?«
»Hin und wieder.«
»Dann sagen Sie ihm nächstesmal, er kann mich am Arsch lecken.« Carl stach mit dem Finger in die Luft, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Ja, richten Sie diesem Scheißkerl aus, daß ich das gesagt hab.«
»Halt die Klappe, Carl.« Mit einem entschuldigenden Lächeln zerrte Cecil seinen Bruder über den Parkplatz.
Am folgenden Tag hatte Ezzy Delray angerufen. Carls Botschaft richtete er ihm nicht aus; er fragte nur, ob er wisse, daß seine Stiefsöhne wieder im Lande seien.
»Ich hab’s gehört, ja, aber gesehen hab ich sie nicht. Die
wissen, wie ich zu ihnen stehe. Mit denen will ich nichts mehr zu tun haben!«
Ezzy hatte sie danach nur noch einmal gesehen. Wieder hatten sie mitten im Getümmel eines Kampfes gesteckt, den sich im Wrangler, einem der wenigen noch verbliebenen Autokinos in Osttexas, eine Bande Jugendlicher lieferte. Alkohol war auf dem gesamten Kinogelände verboten, trotzdem wurden dort im Sommer jeden Abend Unmengen getrunken.
Der Eintritt kostete einen Dollar pro Fuhre, ein billiges Vergnügen also für die Teenager aus Blewer und den umliegenden Ortschaften. Ganz gleich, was für ein Film gegeben wurde, die jungen Leute tummelten sich da zu Hunderten, wanderten von Auto zu Auto, um Freunde zu begrüßen, ein bißchen zu knutschen und zu trinken.
An diesem besonderen Abend hatte sich die Menge aus Gründen, die später nicht mehr festgestellt werden konnten, in zwei feindliche Lager gespalten. Die Kids, die auf der Nordseite parkten, bekriegten die Gruppe auf der Südseite. Mitten über den großen kiesbestreuten Platz zog sich eine Markierungslinie wie die Mason-Dixon-Line.
Als es vorbei war, gab es ein paar Verletzte, mehrere zerstörte Autos und einen ausgebrannten Vorführraum. Alle fünf Streifenwagen des Sheriff’s Office waren zur Stelle.
Als Ezzy Carl entdeckte, versuchte der gerade, das Blut zu stillen, das aus seiner Nase quoll, und gleichzeitig eine volltrunkene Frau auf den vorderen Sitz eines Kombis zu bugsieren. »Sie können’s nicht lassen, was, Carl?«
»Hey, ich hab nicht angefangen«, gab Carl Herbold aggressiv zurück.
»Das stimmt. Ehrlich. Er hat nur sein Mädchen verteidigt. Dafür können Sie ihn nicht verhaften.«
Ezzy wandte sich Cecil zu, der sich wieder einmal schützend vor seinen Bruder gestellt hatte. »Er hat gegen die Bewährungsauflagen verstoßen«, entgegnete der Gesetzeshüter. »Dafür kann ich ihn sehr wohl festnehmen.«
»Mensch, Sheriff, geben Sie ihm ’ne Chance. Was hätt’ er denn tun sollen? Irgendein Arschloch hat seine Freundin eine beschissene Nutte genannt.«
Ezzy erkannte die Frau, die vorn im Sitz hing. Sie war in der Tat eine stadtbekannte Prostituierte, die er schon ein paarmal hatte festnehmen müssen, weil sie ihrem Gewerbe ganz frech auf dem Parkplatz vor dem Piggly-Wiggly-Spielzeuggeschäft nachgegangen war.
»Verschwindet, ihr zwei! Das war der zweite Streich. Von jetzt an behalt ich euch im Auge.«
»Ach ja?« höhnte Carl. »In welchem denn?«
Später machte Ezzy sich Vorwürfe, daß er die beiden an diesem Abend nicht in Handschellen gelegt und abgeführt hatte. Er hätte sie ihrem Bewährungshelfer melden sollen. Auch die kleinste Verfehlung hätte er zum Vorwand nehmen sollen, sie in eine Zelle zu stecken. Hätte er das getan, dann wäre Patsy McCorkle vielleicht heute noch am Leben.
Die beiden Begegnungen mit den Herbolds quälten Ezzy viele Jahre immer wieder. Nie aber erinnerte er sich ihrer mit solchen Gewissensqualen wie an dem Morgen drei Tage nach Patsy McCorkles Tod.
Harvey Stroud, elegant in einem cremefarbenen Leinenanzug, war in sein Büro gekommen und hatte ihm einen braunen Umschlag auf den Schreibtisch geworfen. »Das wär’s.«
»Wurde auch langsam Zeit«, brummte Ezzy, während er den Umschlag öffnete.
»So was kann man nicht überstürzen, Ezzy.« Der Coroner nahm seinen Hut ab und benutzte ihn, um sich Luft zuzufächeln. »Haben Sie vielleicht eine kalte Cola da?«
Ein Deputy brachte ihm das Getränk. Er hatte ungefähr die Hälfte getrunken,
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