Nachtglut: Roman (German Edition)
nicht an die viele Freizeit gewöhnen.« Er sah stirnrunzelnd auf den klebrigen Bananensplit hinunter, den er sich am Tresen geholt hatte. »Wenn ich so weitermache, werd ich bald kugelrund sein.« Er lachte ein wenig bitter und warf dann einen neugierigen Blick auf Jack.
»Ach so«, sagte Delray und wies über den Tisch. »Ich hab mir Hilfe gesucht. Das ist mein neuer Mann.«
»Jack«, sagte Jack, dem Sheriff die Hand bietend.
»Ezzy.«
»Freut mich.«
»Ganz meinerseits.«
Die Hand des großen, langgliedrigen Mannes, dessen einst breite Brust vom Alter leicht eingefallen war, war rauh wie Baumborke. Unter dem Cowboyhut spitzte graugelocktes Haar hervor. Das Gesicht darunter war so faltig wie das eines Bassett und ebenso traurig.
Nachdem der Höflichkeit Genüge geleistet war, wandte
sich der Sheriff wieder Delray zu. »Haben Sie was aus Arkansas gehört?«
»Nichts. Ich erwarte es auch nicht.«
»Nein, da haben Sie sicher recht. Der Junge ist zu schlau, um sich in diese Gegend zu wagen.«
Delray faltete seine Hände auf dem Tisch. »Das sind doch alte Geschichten, Ezzy!«
»Stimmt. Seitdem ist eine Menge passiert.« Nach einem kurzen, aber gespannten Schweigen wechselte der Sheriff das Thema. »Eine Bruthitze, was?«
Delray löste seine Hände, und seine Schultern lockerten sich ein wenig. »Ja, ein kräftiger Guß wäre nicht schlecht.«
Der Sheriff begutachtete wieder seinen Bananensplit, der zu schmelzen begann. »Wenn ich das Zeug nicht bald esse, wird es Suppe. Also dann – schönen Tag noch!«
Mit Interesse sah Jack dem alten Mann nach, der draußen in einen zehn Jahre alten Lincoln stieg. »Er sieht aus wie ein Sheriff.« Sein Blick kehrte zu Delray zurück. »Sie glauben, ich hätte Ihre Kühe vergiftet. Warum haben Sie mich nicht gleich angezeigt?«
»Er ist nicht mehr Sheriff.«
»Das beantwortet nicht meine Frage.«
Delray rutschte zum Ende seiner Sitzbank und stand auf. »Ich nehm David und Anna noch Eis mit.«
Er ging zum Tresen und bestellte. Jack wartete an der Tür auf ihn. Gemeinsam gingen sie zum Wagen, stiegen ein und fuhren zur Ranch zurück.
War das alles? dachte Jack. Vorläufig nur angeklagt, aber noch nicht verurteilt? Oder hatte er seine Sache so gut vertreten, daß Delray die Anklage fallengelassen hatte?
Jack warf einen Blick auf Delrays strenges Profil. Die Hände des Alten lagen ruhig auf dem Lenkrad, sein Blick war geradeaus gerichtet, er hielt die Geschwindigkeitsbegrenzung gewissenhaft ein. Nein, so leicht würde ein Mann, der auf Disziplin und Ordnung hielt, seine Meinung nicht
ändern. Die Geschworenen, dachte Jack, waren am Beraten.
Nun, immerhin hatte er seinen Job noch. Am besten ließ er die Sache jetzt erst einmal ruhen. Aber es galt noch eine andere Angelegenheit zu bereinigen.
»Ich hab mich übrigens gestern abend mit Anna unterhalten«, bemerkte er wie beiläufig.
»Sie haben sich richtig mit ihr unterhalten?«
»So in etwa. Hauptsächlich war’s so, daß ich Fragen gestellt hab und sie mit Ja oder Nein antworten konnte. Hin und wieder hat sie auch mal was auf einen Block geschrieben.«
»Und worüber haben Sie sich unterhalten?«
»Über ihre Gehörlosigkeit. Sie hat mir gesagt, daß sie schon seit ihrer Geburt taub ist.«
»Ja, soviel ich weiß, ist es ein genetischer Defekt.«
»So was muß schlimm sein, sowohl für das Kind als auch für die Eltern.«
»Ihre Eltern hab ich nicht gekannt. Ich hab Anna erst kennengelernt, als Dean sie mitbrachte.«
Jack sah ihn abwartend an. Delray warf ihm einen kurzen Blick zu, begann aber erst zu sprechen, als er wieder die Straße im Auge hatte. »Ich war nicht übermäßig erfreut, als mein Sohn eines Tages nach Hause kam und mir gar nicht genug von diesem gehörlosen Mädchen erzählen konnte, das er im College kennengelernt hatte. Natürlich hab ich’s bewundernswert gefunden, daß sie studierte. Ein Studium ist ja nicht einfach für Behinderte. Für jemanden wie Anna ist es sicher ein täglicher Kampf. Sie hatte eine Dolmetscherin, aber Mut braucht’s trotzdem.«
Jack streckte einen Arm auf der Rückenlehne aus. »Junge Leute, die mehr dafür tun müssen, wissen es wahrscheinlich auch eher zu schätzen und leisten vielleicht gerade deshalb manchmal mehr als andere.«
»Bei Anna war’s so, das weiß ich. Sie hat fleißig studiert
und bekam gute Noten. Aber man kann jemanden für seine Leistungen bewundern, ohne ihn gleich in die eigene Familie aufnehmen zu wollen. Ich gebe zu, daß ich mit
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