Nachthaus
Welt sie liebt. Sie möchte es glauben, aber sie glaubt es nicht, sie kann es nicht glauben.
Sie weiß nicht, warum sie es nicht kann. Nicht zu wissen, warum sie die Welt nicht lieben kann, ist genauso schlimm, wie die Welt nicht zu lieben. Die Welt in Büchern scheint es wert zu sein, geliebt zu werden. Aber sie kann sie nicht lieben. Sie fürchtet sie.
Als Rehkitz hat Bambi oft Angst. Vor einem Frettchen. Vor Blauhähern. Vor vielen Dingen. Er überwindet seine Ängste. Er ist ein ganz tolles und kluges Reh, weil er all seine Ängste überwindet. Dafür liebt Iris ihn. Und sie beneidet ihn darum. Aber sie hat ihn sehr lieb.
Sie fürchtet sich davor, jemand anderen als Bambi zu lieben. Oder sie fürchtet sich davor, ihre Liebe zu zeigen. Sie liebt ihre Mutter, aber sie wagt nicht, es zu zeigen. Menschen zu lieben bringt sie einem zu nahe. Und körperliche Nähe erträgt sie nicht. Sie kann nicht atmen, wenn Leute ihr zu nah sind. Die zarteste Berührung ist wie ein harter Schlag. Sie hält es nicht aus, berührt zu werden.
Sie weiß nicht, warum. Nachts, wenn sie allein in ihrem Bett liegt, versucht sie manchmal, darüber nachzudenken, warum sie so ist. Das Nachdenken darüber bringt sie nur zum Weinen. Wenn sie im Dunkeln allein ist und weint, wünscht sie sich, in einer Buchwelt zu leben, statt in dieser.
Sie kann Bambi lieben, weil er nicht in dieser Welt lebt. Er lebt in der Buchwelt. Da sie durch Welten voneinander getrennt sind, kann sie ihn inbrünstig lieben, ohne ihm jemals zu nahe zu kommen.
Jetzt ruft ihre Mutter sie auf den Bambipfad und Iris wappnet sich dafür, die Wohnung zu verlassen. Da ist Winny, der Junge, und da ist Twyla, die Mutter des Jungen, und das ist schon schlimm genug, zu viele Menschen. Aber jetzt werden sie zu viert die Wohnung verlassen und das bedeutet, zu viele Menschen und neue Orte, Veränderung und noch mehr Veränderung.
Iris hält den Kopf gesenkt und tut so, als sei sie Bambi. Um so zu leben wie Bambi, ist es besser, wenn sie versucht, Bambi zu sein, wenn sie versucht, so zu denken, wie er denken würde.
Iris folgt ihrer Mutter auf den Hausflur, weil Bambi seiner Mutter immer folgt, wenn sie sagt, er müsse es tun. Sie biegen um die Ecke zu der Hintertür von Twylas Wohnung. Iris ist schon im Hausflur gewesen, aber noch nie in der Wohnung dieser Leute. All das ist jetzt also neu für sie. Alles ist neu. Neu ist gefährlich, neu ist feindselig. Jetzt ist alles feindselig. Alles, alles.
Sie muss es alles zu etwas Vertrautem und Freundlichem machen. Sie muss Bambi sein und das hier muss der Wald sein, denn nur dann wird sie sowohl tapfer als auch in Sicherheit sein. Sie versucht, ihren Blick starr auf den Rücken ihrer Mutter zu richten. Natürlich sieht sie Dinge aus den Augenwinkeln oder wenn sie versehentlich nach rechts oder nach links blickt, aber sie stellt sich vor, diese Dinge seien, was sie nicht sind – Teil ihres geliebten Waldes.
Wörter fallen Iris ein, denn sie hat das geliebte Buch so viele Male gelesen, dass sie ganze Passagen auswendig kennt: Um grüne Haselsträucher herum, Hartriegel, Schlehen und jungen Holunder. Hohe Ahornbäume, Buchen und Eichen woben ein grünes Dach über dem Dickicht und aus der festen dunkelbraunen Erde sprangen Farnwedel, Waldwicken und Salbei …
Ihre Mutter und Twyla sprechen miteinander und der Junge spricht mit beiden, aber Iris ist das Gewicht dessen, was sie zueinander sagen, unerträglich. Was sie zueinander sagen, wird sie zermalmen, wenn sie hinhört. Sie zermalmen, zermalmen, zermalmen. Eliminieren , sagen sie. Eliminieren bedeutet töten.
Stattdessen lauscht Iris der Melodie der Wälder: Der ganze Wald hallte von unzähligen Stimmen wider, die ihn in freudiger Erregung durchdrangen. Die Walddrossel jubilierte unaufhörlich, die Tauben gurrten ohne Ende, die Amseln flöteten und die Meisen zwitscherten …
Sie verließen die fremde Wohnung durch den Vordereingang und gelangten auf einen anderen Hausflur, wo Twyla auf eine Klingel drückte. Da ist ein Mann, den sie Bailey nennen, und ein anderer Mann, den sie Dr. Ignis nennen. Und schon wieder ein neuer Ort.
Es wird ihr zu viel, all dieses Neue, das unaufhörlich auf sie einströmt, die ständige Veränderung, unerträglich.
In ihrer Verzweiflung überlässt sich Iris dem Wald, der in ihrer Vorstellung sichtbar wird, um sie mit offenen Armen willkommen zu heißen, wie er Bambi immer willkommen heißt: Aus der Erde kamen ganze Scharen von Blumen, wie kunterbunt
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