Nachthaus
als hätte ihr Körper eine geschärfte Eigenwahrnehmung entwickelt, die sich an der ihres Geistes messen konnte.
Ihre Furcht war vergangen, als enthielte das, was der Dämon in sie gespien hatte, unter anderem auch ein Beruhigungsmittel. Sie hatte keine Befürchtungen mehr und nicht die geringsten Bedenken. Ihre Stimmung entsprach einer ruhigen Erwartungshaltung, einer meditativen Gelassenheit, nicht Apathie, sondern erleichterte Ergebenheit, mit der sie sich einer unvermeidlichen Transformation unterwarf.
Nachdem sie für ihren früheren Ehemann eine Art Sandsack gewesen war und den Mut aufgebracht hatte, ihn zu verlassen und die Scheidung zu erwirken, hatte sie vor mehr als zwanzig Jahren ihre Selbstachtung wiedergefunden und war seitdem zu stark gewesen, um sich jemandem auf diese Weise zu unterwerfen. Mit einer Stärke, auf die sie stolz war, wies sie Apathie von sich, nahm Gefühle und Hoffnung bereitwillig an und fand sich mit nichts ab – bis sie sich jetzt mit einer beinah angenehmen Erwartungshaltung dieser Situation beugte.
Ihr Gerippe begann seinen Widerstand aufzugeben. Sie fühlte, dass sich etwas innerhalb ihrer Knochen bewegte, als sei ihr Mark lebendig geworden und kröche in den Aushöhlungen, die es umfingen, herum. Sie spürte, wie sich die Knochen in ihren Beinen und Armen allmählich verlängerten. In ihren Zehen – und andernorts – schienen sich sogar zusätzliche Knochen zu bilden. Auch in ihren Gelenken tat sich etwas und sie fühlte, wie sich Knorpel verwoben, um sich der neuen Realität dieser Verbindungen anzupassen.
Die Bezeichnungen Werwolf und Werkatze kamen ihr in den Sinn, doch sie ließen keine Ängste aufkommen. Stattdessen war die Aussicht auf eine Verwandlung faszinierend und weckte in ihr die zaghafte Ahnung einer Möglichkeit, eine behutsame Bereit willigkeit, abzuwarten und die Dinge auf sich zukommen zu lassen, in Erwägung zu ziehen, eine Veränderung könnte viel leicht zum Besseren sein. Ein Teil von ihr erkannte, dass das keine natürliche Reaktion war und demnach chemisch herbeigeführt worden sein musste. Sie vermutete, während ihr Körper umpro grammiert wurde, würde auch ihr Geist manipuliert. Doch selbst diese Erkenntnis erschreckte sie nicht, noch nicht einmal dann, als sie merkte, dass ihre rechte Hand, die auf dem Fußboden vor ihrem Gesicht lag, wo sie sie deutlich sehen konnte, größer wurde. Jeder Finger schien sich um einen weiteren Knöchel und ein weiteres Fingerglied zu verlängern. Knochen wanden sich im Fleisch, Haut dehnte sich und platzte, schloss sich aber sofort wieder.
* * *
Silas Kinsley
Silas suchte Zuflucht zwischen den surrenden Reihen von gro ßen Multistack-Kühlaggregaten und beobachtete Mickey Dime durch einen Spalt zwischen zwei Geräten. Das, was er auf die Sackkarre geladen und unter einer Decke verborgen hatte, war anscheinend dazu bestimmt, gemeinsam mit der Leiche von Vernon Klick in dem Gully zu verschwinden.
Da er sein Leben in Anwaltskanzleien und Gerichtssälen verbracht hatte, empfand Silas Respekt vor dem Recht und brachte ihm sogar Liebe entgegen, trotz der Entschlossenheit der Politiker, immer kompliziertere Schichten von Regelungen darüberzulegen, und trotz der niederträchtigen Zwecke, zu denen es manche Menschen verdrehten. Es widerstrebte ihm zuzulassen, dass Dime sich der Beweise eines Kapitalverbrechens entledigte. Da niemand genau wusste, wie weit der Grund des Eruptionskanals entfernt sein mochte, und da die Möglichkeit bestand, dass er in einen unterirdischen See oder Fluss mündete, der die Leiche an einen Ort tragen würde, an dem jede Entdeckung unmöglich wäre, musste man annehmen, dass eine Stadt, die in schlechten wirtschaftlichen Zeiten ein ruinöses Budgetdefizit aufzuweisen hatte, sich weigern würde, eine kostspielige und nicht gerade vielversprechende Untersuchung tief in der Erde vorzunehmen. Aber Silas war ein alter Mann, der sich von Tag zu Tag älter fühlte und zwar bewaffnet war, aber nicht zuversichtlich, dass von seinen Schießkünsten noch viel übrig war. Mit Dime, der halb so alt wie er, fit und offensichtlich skrupellos war, konnte er es nicht aufnehmen.
Außerdem erinnerte er sich gut an den Butler, der 1935 die ganze Familie Ostock und das gesamte Personal, das im Haus wohnte, getötet hatte, ehe er Selbstmord begangen hatte, um »die Welt vor ewiger Dunkelheit zu bewahren«, und er erinnerte sich an die scheinbar irrationalen Notizen in Andrew Pendletons Tagebuch, der in den
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