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Nachthaus

Nachthaus

Titel: Nachthaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Koontz
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Südflügels zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Vor dem Hintergrund von Drachenlicht entdeckte er an der Fensterscheibe das gespenstisch weiße Gesicht von Fielding Udell, der Toms Anwesenheit vielleicht gar nicht wahrgenommen hatte. In genau dem Moment, als Udell auf etwas reagierte, was er weiter östlich im Innenhof gesehen hatte, hörte das Klappern und Schaben auf, durch die Nacht zu hallen. Das Zischen und das Luftablassen unter Druck waren noch zu hören, aber der Rhythmus und der Charakter dieser beunruhigenden Geräu sche veränderten sich. Mit einer abrupten Bewegung, in der sich deutlich seine Furcht ausdrückte, gesehen zu werden, trat Udell vom Fenster zurück. Im nächsten Moment setzten das Klappern und Schaben wieder ein. Das, was Udell alarmiert hatte, was auch immer es war, näherte sich Tom jetzt auf dem gewundenen Fußpfad, war aber noch nicht zu sehen, da es hinter der hohen Vegetation verborgen und ein oder zwei Kurven hinter ihm war.
    Er wandte sich wieder zur Tür um, steckte seinen Schlüssel ins Schloss – und stellte fest, dass er sich nicht umdrehen ließ. Er ließ ihn im Schloss herumruckeln, schob ihn tiefer hinein, zog ihn wieder zurück und versuchte es noch einmal, doch er hatte kein Glück. Entweder das Schloss war, wie so manches an dem Gebäude, zu Bruch gegangen oder ein Schlosser hatte es ausgewechselt.
    Hinter ihm schrie eine Stimme, so schrill wie die eines kreischenden Kindes, eines ungeduldigen und bockigen Kindes, und als Tom sich danach umdrehte, ertönte ein zweiter Schrei, zorniger als der erste – und leidend. Zehn Meter von ihm entfernt kam eine Kreatur, die etwa Toms Größe, aber zweimal seinen Umfang hatte, mit einem halben Dutzend Beinen im Krebsgang um eine Biegung des Gehwegs und brach durch die Pflanzen, die sie bedrängten.
    Entweder die Tore der Hölle hatten sich geöffnet oder Tom hatte den Verstand verloren, denn so etwas wie dieses Gebilde konnte es außerhalb der Bezirke der Verdammten nicht geben, es sei denn, in den Fieberfantasien eines rasenden paranoiden Psychopathen.
    * * *

Julian Sanchez
    Als er ins Esszimmer trat, wusste Julian sofort, dass auch dieser Raum unmöbliert sein musste. Erstens fehlte der Teppich und zweitens wurden seine Schritte auf dem Kalksteinboden anders von den Wänden zurückgeworfen, nicht so, wie sie in einem möblierten Raum geklungen hätten.
    Die Stimmen, die er gerade noch gehört hatte, waren jetzt verstummt. Er blieb stehen und lauschte. Auf dieselbe Weise, wie er durch eine Art von psychischem Radar den exakten Standort der Möbelstücke um sich herum erkennen konnte, vermochte er auch in einem ziemlich zuverlässigen Maß die Anwesenheit anderer intuitiv wahrzunehmen. Sogar ein Mensch, der ruhig dastand, erzeugte verräterische Geräusche – er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, atmete flach, leckte sich die Lippen oder saugte einen Essensrest zwischen Zähnen heraus, Kleidungsstücke raschelten, eine Armbanduhr tickte –, aber bis auf die kleinen Geräusche, die er selbst hervorbrachte, klang das Zimmer menschenleer.
    Julian war nicht von Geburt an blind gewesen. Er hatte sein Augenlicht im Alter von elf Jahren verloren, als Retinoblastome die operative Entfernung beider Augen erforderlich gemacht hatten. Demzufolge hatte er mehr als ein Jahrzehnt visueller Er innerungen gespeichert, die es ihm erlaubten, aus den Anhaltspunkten, die ihm seine anderen vier Sinne lieferten, mentale Bilder und ganze Szenen zu konstruieren – einschließlich der Farben. Wenn er sich durch seine Wohnung bewegte, sah er vor seinem geistigen Auge jeden Raum in lebhaften Einzelheiten vor sich, obwohl er nichts davon jemals tatsächlich gesehen hatte.
    Die unerklärliche Veränderung, zu der es kürzlich gekommen war, setzte ihn jedoch außerstande, seine neue Umgebung zu visualisieren. Die Wahrnehmung von Leere, der Schmutz und der Unrat, die Widerwärtigkeit von Schimmel und Moder und anderen unbestimmbaren schlechten Gerüchen veränderten diese Räume so grundlegend, dass er sich fast so unfähig fühlte, sie sich bildhaft vorzustellen, wie es ein Mensch gewesen wäre, der von Geburt an blind und ohne visuelle Erinnerungen war.
    Als Julian argwöhnisch das Wohnzimmer betrat, erhoben sich die murmelnden Stimmen wieder. Sie redeten in einer Fremdsprache, die er nicht identifizieren konnte. Vorhin hatten sie eindringlich geklungen, als übermittelten sie eine Warnung. Die Eindringlichkeit war noch da, doch jetzt

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