Nachthaus
gemartert, dass sie seinen Anblick kaum ertrug. Verwundert sprach sie ihn mit seinem Namen an, doch er reagierte nicht darauf und sah auch nicht in ihre Richtung. Es betrübte sie, ihn in seinem erbärmlichen Elend zu sehen, aber sie fürchtete sich nicht und setzte sich neben ihn auf das Bett. Als sie ihm eine Hand auf die Schulter legte, besaß er keine stoffliche Substanz und schien ihre Berührung nicht zu fühlen, während ihre zitternde Hand durch ihn hindurchglitt. Offenbar konnte er Martha nicht sehen, denn er schien sich nicht vorsätzlich von ihr abzuwenden. Sie war ihr Leben lang gläubig gewesen, aber an Geister hatte sie nicht geglaubt. Die Art, wie er an seinem Gesicht zog, sich die Fäuste an die Schläfen presste, in die Knöchel seiner Hand biss und sich manchmal vorbeugte, als litte er unter Anfällen extremer Verzweiflung, gab ihr einen Hinweise darauf, dass ihn nicht die Tatsache seines Todes bekümmerte, sondern etwas anderes. Seine Qualen gingen ihr so nah, dass sie es nicht mit ansehen konnte, und nach ein paar Minuten kehrte sie, niedergeschlagen und bestürzt, in das Bett im Gästezimmer zurück und stellte die Zuverlässigkeit ihrer Sinneswahrnehmungen infrage. Das gequälte Weinen dauerte noch eine Stunde lang, und als es endlich nachließ und verstummte, versuchte sie sich einzureden, sie hätte den Vorfall nur geträumt oder ihn sich in ihrem Kummer eingebildet; aber sie besaß nicht die Gabe zur Selbst täuschung und sie wusste, dass Simons Erscheinung so real gewesen war wie sein plötzliches Ableben.
Obwohl Logan Spangler keinerlei Ähnlichkeit mit Simon hatte, obwohl er sie bisher noch nie an Simon erinnert hatte, obwohl er jetzt so real auf sie wirkte wie bei jeder bisherigen Begegnung, wusste sie, sowie ihr Blick auf ihn fiel, dass er nicht mehr am Leben war. Vielleicht war er auch kein Geist, aber er war nicht lebendiger, als Simon es gewesen war, damals auf dieser Bettkante. Und das war der Moment, vor dem ihr neunund dreißig Jahre lang gegraut hatte, seit sie im Bett gelegen und Simons elendem Weinen gelauscht hatte, der Moment, bevor sie die letzten Dinge entdecken würde.
»Gott sei Dank, dass Sie hier sind«, sagte Edna.
Martha hatte keine Gelegenheit, eine Warnung auszustoßen. Als Edna in ihrem raschelnden Abendkleid Spangler entgegeneilte, machte er den Mund auf und bespuckte sie mit ir gendwas. Was er spuckte, war dunkel und hatte etwa die Größe von Oliven, vier oder fünf Stück, und sie bewegten sich mit einer Geschwindigkeit, mit der kein normaler Mensch irgendetwas spucken konnte. Sie trafen Edna in der Brust und im Unterleib und sie krümmte sich, aber nicht mit einem Schmerzensschrei, sondern mit einem leisen, überraschten Keuchen. Als Spangler sich zu Martha umdrehte, sagte sie für den Fall, dass ihre Schwester vielleicht doch noch einen Moment lang bei Be wusstsein bleiben würde: »Ich hab’ dich so lieb, Edna.« Spangler spuckte ein weiteres Gestöber von Projektilen. Martha fühlte, wie sie sie durchbohrten, aber der Schmerz dauerte nur einen Moment. Dann fühlte sie etwas Schlimmeres als Schmerz und wünschte sich, sie wäre stattdessen mit einer Pistole erschossen worden. Was sie durchdrang, bohrte sich nicht in ihr Fleisch, wie es Kugeln getan hätten, sondern kroch auf einer grauenerregenden Suche in ihrem Inneren herum. Sie machte den Mund auf, um zu schreien, aber sie konnte keinen Laut von sich geben, weil sich etwas Großes und Eisiges in ihrer Kehle wand. Sie unternahm nur drei Versuche, einen Schrei auszustoßen, denn nach dem dritten Anlauf war sie nicht mehr Martha Cupp.
* * *
Bailey Hawks
Bailey hätte dem Fremden nicht in den Rücken geschossen und vielleicht hatte der Mann die Unaufrichtigkeit dieser Drohung geahnt. Vielleicht war seine Behauptung – Mich kann man nicht töten – nur Prahlerei, ebenso gelogen wie Baileys Drohung. Und doch glaubte Bailey ihm.
Rasche Schritte auf der Treppe – »Mr. Hawks!« –, dann tauchte Tom Tran auf.
Bailey ließ die Pistole sinken, wandte sich von der offenen Tür des Fitnessraums ab und dem Treppenhaus zu und sagte: »Mir fehlt nichts, Tom. Ich dachte nur, ich hätte etwas … gesehen.«
»Was haben Sie denn gesehen?«
Ich bin hier in einer heiklen Position. Das müssen Sie respektieren.
»Nichts«, sagte Bailey. »Es war nichts.«
Er hätte Tom und den anderen gern wenigstens gesagt, dass es für sie in zweiundsechzig Minuten nach Hause gehen würde. Aber er wusste nicht, ob das der
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