Nachthaus
klopfte an seine Tür und er rief »Komm rein«, und als sie über die Schwelle trat, fand sie ihn auf dem Sessel vor, die Beine unter sich gezogen und drei Bücher auf dem Schoß.
Er strahlte von innen heraus, zumindest in ihren Augen, doch sie glaubte, dass nicht nur sie das so empfand, denn sie hatte schon oft gesehen, dass andere Leute ihn anstarrten, als fesselte sein Äußeres gegen ihren Willen ihre Aufmerksamkeit. Er hatte ihr dunkles Haar – beinah schwarz – und die blauen Augen seines Vaters, doch sein Reiz beschränkte sich nicht auf das Aussehen. Trotz seiner Schüchternheit und seiner Zurückhaltung besaß er eine unbeschreibliche Eigenschaft, die andere Menschen schon bei der ersten Begegnung für ihn einnahm. Falls man von einem so jungen Knaben behaupten konnte, er besäße Charisma, dann war Winny charismatisch, schien sich dessen jedoch überhaupt nicht bewusst zu sein.
»Ist alles in Ordnung mit dir, Liebling?«, fragte sie.
»Klar. Mir fehlt nichts. Ist bei dir alles in Ordnung?«
»Was war das für ein Beben?«, sagte sie verwundert.
»Du weißt es nicht? Ich dachte, du wüsstest es.«
»Ich glaube nicht, dass es ein Erdbeben war.«
Er sagte: »Vielleicht ist im Keller etwas explodiert.«
»Nein. Das hätte Alarm ausgelöst.«
»Es war nicht das erste Mal.«
»Wann war denn das erste Beben?«
»Eher, aber es war nicht so schlimm. Vielleicht wird irgend wo etwas gesprengt. Von irgendwelchen Bauarbeitern oder sonst jemandem.«
Sein Schlafzimmer hatte eine drei Meter sechzig hohe Kassettendecke mit einem verschnörkelten Medaillon aus vergoldetem Gips in jeder Kassette und außerdem eine exquisite Wandtäfelung, die vor vergoldetem Hintergrund mit einer Szene im japanischen Stil bemalt war, Libellen und Bambus. Beides war noch aus dem ursprünglichen Pendleton erhalten.
Diese nahezu einschüchternde Eleganz wurde durch Winnys Spielsachen und seine Bücher ausgeglichen, doch Twyla fragte sich – und das nicht zum ersten Mal –, ob sie einen Fehler gemacht hatte, als sie diese Wohnung gekauft hatte, und ob das eine angemessene Umgebung für ein Kind war. Es war ein sicheres Gebäude in einer sicheren Stadt, ein privilegiertes Ambiente, um darin aufzuwachsen. Aber es gab nicht viele Kinder im Pendleton. Winny hatte kein Interesse an Spielkameraden; er schien sich stets mit sich selbst beschäftigen zu können. Doch um seine Schüchternheit zu überwinden, brauchte er den Umgang mit gleichaltrigen Kindern, nicht nur in der Schule, sondern auch zum Spielen.
Twyla setzte sich auf den Hocker vor dem Sessel ihres Soh nes und sagte: »Schätzchen, gefällt es dir eigentlich hier im Pendleton?«
»Ich will nicht in Nashville oder in L. A. leben«, sagte er sofort.
»Nein, nein«, sagte sie. »Das meinte ich nicht. Ich will auch nicht dort leben. Ich meine, vielleicht könnten wir ein Haus in einer normalen Wohngegend finden, nicht so schick wie hier, ein Haus mit einem Garten, vielleicht in der Nähe eines Parks oder so, wo es jede Menge andere Kinder gibt. Wir könnten uns einen Hund zulegen.«
»Wir könnten uns auch hier einen Hund zulegen«, sagte Winny.
»Ja, das ginge, aber in der Stadt ist es nicht so einfach, sich um einen Hund zu kümmern, wie es in einem Vorort wäre. Hunde haben gern Auslauf.«
Er blickte finster. »Du kannst sowieso nicht einfach in eine normale Wohngegend ziehen, weil du bist, wer du bist.«
»Wer bin ich denn? Ich bin einfach nur ich, nichts weiter als jemand, der Songs schreibt. Ich bin niemand Besonderes.«
»Du warst schon öfter im Fernsehen. Dieses eine Mal hast du sogar im Fernsehen gesungen. Und du hast wirklich gut gesungen.«
»Ich bin in einem ganz normalen Stadtteil aufgewachsen, weißt du. Ehrlich gesagt, war es sogar ein eher schäbiges Viertel.«
»Ich mache mir sowieso nicht viel aus Parks. Da bekomme ich immer einen juckenden Ausschlag oder so was. Du weißt doch, dass ich diesen Ausschlag bekomme. Oder ich kann nicht mehr aufhören zu niesen, wegen der Blumen und Bäume und all dem Zeug. Vielleicht macht es ja Spaß, im Winter in einen Park zu gehen, verstehst du, wenn alles tot und gefroren und mit Schnee bedeckt ist, aber den größten Teil des Jahres über ist ein Park für mich nicht so toll.«
Sie lächelte. »Dann ist ein Park für dich also so etwas wie ein kleines Stückchen Hölle hier auf Erden, was?«
»Ich weiß nicht, wie es in der Hölle ist, abgesehen davon, dass es dort wahrscheinlich heiß ist. Die Hölle muss
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