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Nachthaus

Nachthaus

Titel: Nachthaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Koontz
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nicht wissen, bevor er auf die Probe gestellt wurde.
    Was er niemals sein konnte, war Weihnachtsmann. Niemand konnte Weihnachtsmann sein. Der Weihnachtsmann war nicht echt, im Gegensatz zum Paketpostboten. Diese Entdeckung hatte Winny erst kürzlich gemacht. Er war sich nicht sicher, wie er dazu stehen sollte. Anfangs war er traurig gewesen. Es war ihm vorgekommen, als sei der Weihnachtsmann gestorben. Aber die Traurigkeit hatte nicht lange angehalten. Eine Person, die es nie gegeben hatte, konnte nicht sterben, man konnte ihr nicht nachtrauern. In erster Linie kam sich Winny vor wie ein Idiot, weil er überhaupt so lange an das ganze dumme Getue um den Weihnachtsmann geglaubt hatte.
    Jetzt konnte er also nicht mehr ehrlich behaupten, sein Dad käme so selten wie der Weihnachtsmann, weil der Weihnachtsmann in Wahrheit nie kam, sein Dad dagegen manchmal. Natürlich hatte er seinen Dad schon lange nicht mehr gesehen, und vielleicht würde sich irgendwann rausstellen, dass es seinen Dad auch nie gegeben hatte. Winny bekam ab und zu einen Telefonanruf, aber das konnte eine Finte sein, der Typ am anderen Ende der Leitung könnte jeder sein. Wenn sein Dad an Weihnachten zu Besuch kam, brachte er Winny mit, was er ihm immer mitbrachte: ein oder zwei Musikinstrumente, einen Packen CD s, nicht nur seine eigenen, sondern auch CD s von anderen Sängern, und eine Autogrammkarte, falls er eine neue hatte. Jedes Mal, wenn Farrel Barnett ein neues Fanfoto aufnahm, sorgte er dafür, dass Winny ein Exemplar erhielt. Auch wenn es den Weihnachtsmann nicht gab, brachte er bessere Geschenke als Winnys Dad, den es höchstwahrscheinlich gab, obwohl man das nie so genau sagen konnte.
    Winny hatte sich fast entschieden, welches der drei Bücher er lesen würde, als der Boden und die Wände bebten. Die Lampe auf dem Tisch neben seinem Sessel hatte eine Zugschnur, die jetzt hin und her schwang und klirrend gegen den Lampenständer schlug. An den Fenstern raschelten die Vorhänge ein wenig, als setzte sie ein Luftzug in Bewegung, doch es zog nicht. In dem offenen Bücherregal, das in das Kopfende seines Betts integriert war, vibrierten Spielfiguren aus Dragonworld auf dem Holz. Sie ruckelten herum, als erwachten sie zum Leben. Sie ruckelten ganz beachtlich herum. Aber natürlich waren sie noch toter als die alte Grace Lyman.
    Winny blieb sitzen, während es bebte, grelle Blitze vor den Fenstern loderten und Donnerschläge dröhnten. Er hatte keine Angst. Er würde sich nicht in die Hose machen oder so was. Aber er war auch nicht ruhig und gefasst. Er war irgendwo dazwischen. Er kannte kein Wort dafür, wie er sich fühlte. In den letzten paar Tagen ereigneten sich seltsame Dinge im Pendleton. Ganz sonderbare Dinge. Aber sonderbar musste nicht immer beängstigend sein. Manchmal war sonderbar echt interessant. Letztes Jahr hatte ihm sein Dad zu Weihnachten ein vergoldetes Saxophon geschenkt, das fast so groß wie Winny war. Das war zwar reichlich sonderbar, aber es war weder interes sant noch beängstigend, sondern einfach nur auf eine blöde Art und Weise sonderbar.
    In den vergangenen zwei Tagen war ihm zweimal etwas Sonderbares und Interessantes zugestoßen, das er für sich behalten hatte. Er hätte seiner Mutter gern von den seltsamen Erlebnissen erzählt, aber er hatte den Verdacht, dann würde sie glauben, sie müsste seinen Vater benachrichtigen. Aus gutem Grund versuchte sie ständig, den alten Farrel Barnett in das Leben seines Sohnes einzubeziehen. Sein Dad würde bestimmt überreagieren, und ehe Winny sich versah, würde er zweimal in der Woche zum Seelendoktor geschickt, es würde zu einem Kampf um das Sorgerecht kommen und ihm würde Nashville oder Los Angeles blühen.
    Als das Beben nachließ, warf Winny einen Blick auf den Fernseher. Er war stumm, der Bildschirm dunkel. Obwohl der Acrylbildschirm nicht so gründlich poliert war, dass er sich darin spiegelte, wie er auf dem Sessel saß, schien er auch nicht flach zu sein, sondern bedrohliche Untiefen zu haben, wie ein trüber Wassertümpel im Schatten eines Waldes. Der Schein seiner Leselampe auf dem Bildschirm schien das bleiche, verzerrte Gesicht eines Ertrinkenden zu sein, der dicht unter der Oberfläche trieb.
    * * *
    Twyla eilte aus ihrem Arbeitszimmer zu Winnys Zimmer am anderen Ende der großen Wohnung, die auf mehr als dreihun dertzwanzig Quadratmetern Wohnraum acht Zimmer, drei Bäder und eine Küche umfasste – eine der beiden größten Wohneinheiten des Gebäudes. Sie

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