Nachthaus
Offensichtlich hatte er letzte Nacht nicht in seinem Bett geschlafen. Die Anzeichen dafür, dass er bei seiner Rückkehr den Aufzug betreten, aber nie mehr ausgestiegen war, häuften sich, obwohl das undenkbar war.
Wenn Politiker sich auch noch so sehr bemühten, die Öffent lichkeit davon zu überzeugen, dass sie Magier waren, die Wunderlösungen parat hatten, dann hatten sie doch keine Tarnumhänge und keine Pillen, die sie auf die Größe einer Ameise schrumpfen ließen. Wenn der Senator den Aufzug nicht durch die Tür verlassen hatte, musste er durch den Notausgang in der Decke gestiegen sein.
Wie Blandon so etwas innerhalb der dreiundzwanzig Sekunden, in denen die Kamera im Aufzug nicht funktionierte, bewerkstelligt haben sollte und warum er etwas Derartiges hätte tun sollen, stellte Logan Spangler vor ein Rätsel. Eine nähere Inspektion des Aufzugs konnte ihm möglicherweise einen Anhaltspunkt geben.
Als er sich umdrehte, um das Badezimmer zu verlassen, stieg wieder ein Rumpeln unter dem Gebäude auf, und die Lichter gingen aus, sowohl im Bad als auch im Schlafzimmer. In der blendenden Schwärze zog er die fünfzehn Zentimeter lange Taschenlampe von seinem Gürtel und knipste sie an. Der weiße Strahl der LED -Lampe war heller als der einer herkömmlichen Taschenlampe, und doch war er schon dabei, das Badezimmer zu verlassen, als er merkte, dass sich um ihn herum alles verändert hatte.
Diese wenigen Sekunden im Dunkeln schienen Jahre gewesen zu sein. Der weiße Marmorboden, der gerade noch blank poliert gewesen war und geschimmert hatte, war stumpf vor Staub. In der dekorativen geflochtenen Bordüre aus grünem und schwarzem Granit fehlten Stücke. Das vernickelte Wasch becken wies grüne Flecken und Rost auf. Zerfetzte Spinnweben hingen wie Girlanden von den Griffen und dem Auslauf der Wasserhähne, als hätte hier schon lange niemand mehr Wasser laufen lassen.
Im Spiegel, der jetzt trüb und fleckig war, als hätten Pilze oder Schwämme, die dahinter wuchsen, die silberne Beschichtung der Rückseite teilweise zerfressen, schien Logans Spiegelbild eine Erscheinung zu sein, der es an der Substanz eines echten Menschen fehlte. Der unerklärliche abrupte Verfall seiner Umgebung verschlug ihm im ersten Moment den Atem und er rechnete fast damit zu sehen, dass er gemeinsam mit dem Raum gealtert war. Er blieb jedoch so, wie er gewesen war, als er sich an jenem Morgen vor seinem eigenen Badezimmerspiegel rasiert hatte: das graue Haar mit dem Bürstenschnitt und das von Erfahrungen zerfurchte Gesicht, aber noch nicht vom Alter ausgemergelt.
Als das Rumpeln nachließ, sah Logan, dass die Glasscheibe in der Tür der Duschkabine verschwunden war. Nur der Rahmen war noch da, rostig und schief. Auf dem Boden waren keine Handtücher zu sehen.
Er war bestürzt, bekam aber wieder Luft, als er die Schwelle zum Schlafzimmer überschritt, in dem keine Möbel mehr standen. Der Strahl der LED -Lampe zeigte ihm, dass das Bett, die Nachttische, die Kommode, der Sessel und die Kunst an den Wänden fort waren. Auch der unechte Perserteppich war verschwunden und an seiner Stelle war mehr von dem Holzboden zu sehen.
Sein anfängliches Erstaunen darüber, das Zimmer unmöbliert vorzufinden, wich der Bestürzung und der Sorge um seine Zurechnungsfähigkeit, als der zitternde Lichtstrahl ihm zeigte, dass sich das Schlafzimmer in einem seit langer Zeit leer stehenden Haus zu befinden schien. Der Mahagoniboden war unter dem Staub abgenutzt und verzogen und hatte sich von dem Beton, an dem er lange gehaftet hatte, stellenweise gelöst und aufgeworfen. Flecken, die wie samtige Flügel riesiger Nachtfalter aussahen, verfärbten die Tapete und die einstmals weiße Farbe über seinem Kopf war jetzt grau und vergilbt und hing in Fetzen herab, als seien die tiefen Kassettenfelder die Kokons gewesen, aus denen sich diese insektenartigen Gebilde herausgewunden hatten.
Als Kriminalbeamter setzte Logan unerschütterliches Vertrauen in das, was ihm seine fünf Sinne vermeldeten, und in die Schlussfolgerungen, die sein Verstand – mithilfe von Vernunft und Intuition – aus der Gesamtsumme dieser zahlreichen Ein zelheiten am Ende ziehen würde. Lügner konnten Tatsachen ver drehen, doch jede Tatsache war wie ein Stück Memory-Metall, das dank seines Formgedächtnisses zwangsläufig wieder seine ursprüngliche Form annehmen würde. Seine Augen konnten ihn nicht belügen, obwohl er versuchte, diese undenkbaren Veränderungen im Schlafzimmer
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