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Nachthaus

Nachthaus

Titel: Nachthaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Koontz
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Zweitausend erlitten Verletzungen. Durch Blitzschlag kamen mehr Menschen ums Leben als durch jedes andere Wetterphänomen, Überschwemmungen, Orkane und Tornados inbegriffen. Die Stromstärke eines Blitzes konnte bis zu 30 000 Ampere und eine Million oder noch mehr Volt betragen.
    Manche Menschen glaubten, Sparkles enzyklopädisches Wissen über Blitze müsse ein Zeichen von Besessenheit sein, doch sie sah darin nichts weiter als einen Teil ihrer Familiengeschichte. Wenn man einen Eisenbahningenieur zum Vater hatte, würde es schließlich auch niemanden wundern, dass man eine Menge über Züge wusste. Die Tochter eines Schiffskapitäns würde wahrscheinlich in Seefahrergeschichten und Legenden über die Weltmeere schier ertrinken. Es wäre doch gewiss eine Respektlosigkeit gegenüber dem Vater gewesen, wenn das Kind eines Mannes, den die Lanze eines Unwetters mit einer Million Volt durchbohrt hatte, kein Interesse daran gehabt hätte, etwas über die Waffe zu erfahren, durch die ihn sein Los ereilt hatte. Und dann war da natürlich noch das grauenhafte Ende ihrer Mutter.
    Sie hatte sich gerade mal eine halbe Stunde mit der Inspektion ihrer Schuhsammlung beschäftigt, da fiel Sparkle einer von Hunderten von Fällen ein, die sie in der Presse über den Tod durch Blitzschlag gelesen hatte. Gerade erst vor ein paar Jahren war irgendwo in New England eine Braut vor einer Kirche wenige Momente vor ihrer Hochzeit vom ersten Blitz eines Unwetters getroffen worden, ehe auch nur ein Tropfen Regen gefallen war. Der Blitz hatte in ihr silbernes Diadem eingeschlagen und war durch ihren rechten Fuß wieder ausgetreten. Sie trug weiße Satinpumps mit Pfennigabsätzen; der linke Schuh zerbrach in mehrere Stücke, doch der rechte wurde vom Blitz verkohlt und mit ihrem Fleisch verschweißt.
    Eine Bestandsaufnahme ihrer Schuhe konnte Sparkle nicht mehr von dem Donner ablenken, der auf das Pendleton herunterkrachte. Plötzlich erinnerte sie der Anblick von Schuhen an den barfüßigen Todestanz ihrer eigenen Mutter.
    Es widerstrebte ihr, das Ankleidezimmer zu verlassen, denn dort gab es keine Fenster. Hier konnte sie das Unwetter nicht sehen – und es konnte sie nicht sehen. Zudem war hier die Kanonade des Donners gedämpfter als irgendwo sonst in ihrer Wohnung.
    Ein oder zwei Minuten lang stand sie da und versuchte zu entscheiden, wo sie sonst noch Zuflucht suchen könnte – da tauchte Iris in der Tür auf. Mit ihren zwölf Jahren war das Mädchen in zweierlei Hinsicht wie Sparkle – von zierlicher Gestalt und mit zarten Gesichtszügen –, aber ansonsten ganz anders. Sparkle war eine Blondine, Iris hatte rabenschwarzes Haar. Sparkles Augen waren blau; Iris hatte Augen von einem seltsam leuchtenden Grau. Die Mutter war hellhäutig, die Tochter besaß einen von Natur aus dunkleren Teint.
    Iris sah Sparkle direkt an, aber nur einen Moment lang, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem weichen Stoffhasen zu, den die Tochter im Arm wiegte, als sei er ein echtes Baby.
    »Jagt dir das Unwetter Angst ein, meine Süße?«, fragte Sparkle, denn sie machte sich Sorgen, dieses äußerst sensible Kind, das die Welt ohnehin schon als nahezu unerträglich aufreibend empfand, könne von ihrer eigenen Angst angesteckt werden.
    An einem guten Tag gab Iris weniger als hundert Wörter von sich, an vielen Tagen kein einziges. Sie hatte eine ausgeprägte Aversion dagegen, Fragen zu beantworten, die oft ein so schmerzhaftes Eindringen in ihre Privatsphäre darstellten, dass sie gequält das Gesicht verzog.
    Mit einer Stimme, die so lieblich wie ernst war, sagte das Mädchen: »›Wir gehen jetzt auf die Wiese, um uns von der Sonne trocknen zu lassen.‹«
    An der Shadow Street gab es nirgendwo eine Wiese und an diesem düsteren Tag war auch nichts von der Sonne zu sehen. Aber Sparkle verstand, was das Mädchen damit sagen wollte: Zuerst hatte sie sich gefürchtet, aber jetzt hatte sie keine Angst mehr. Iris’ Worte stammten aus dem Buch Bambi , gesprochen von der Mutter des berühmten Rehkitzes nach einem fürchterlichen Unwetter; sie hatte das Buch Dutzende von Malen gelesen – wie all ihre Lieblingsbücher – und konnte ganze Szenen auswendig.
    Iris sah den Stoffhasen ernst an und streichelte zärtlich sein samtiges Gesicht. Der starre Blick des Häschens erschien Sparkle nur geringfügig weniger ausdrucksstark als die glänzenden Augen, mit denen ihre Tochter sie ganz kurz betrachtet hatte.
    Als Iris sich von der offenen Tür des Ankleidezimmers

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