Nachthaus
ihr, wenn sie ihn jemals verließe, würde er sie umbringen.
Schließlich floh sie vor Vince, ließ sich scheiden und begann ein neues Leben. Die Cupp-Schwestern versorgten sie nicht nur mit einem guten Gehalt, sondern auch mit Familienanschluss. Sally hatte innerhalb von ein paar Monaten aus tiefer Verzweiflung zu einer gewissen Zufriedenheit gefunden, von Selbstverachtung zu Selbstachtung. Ein so weiter Weg in so kurzer Zeit, daher würde ihr immer bewusst sein, dass das Leben ebenso plötzlich eine Wendung zum Schlechteren nehmen konnte wie zum Besseren.
Als Sally vor ihrer Wohnungstür den Schlüssel im Schloss umdrehte, sagte Bailey: »Wäre Ihnen wohler zumute, wenn ich mit reinkäme, bis Sie sich vergewissert haben, dass alles … in Ordnung ist?«
Seine Frage erinnerte sie wieder daran, wie ernsthaft er sich ihre Geschichte in der Küche der Cupp-Schwestern angehört hatte, ohne ein ungläubiges Wort oder den geringsten Ausdruck von Zweifel oder Belustigung. Jetzt sah sie ihm eine Anspannung an, die ihr vorher nicht aufgefallen war, eine nicht vollständig verborgene Wachsamkeit, mit der er den Flur vor ihrer Tür im Auge behielt und die er auch nicht ablegte, als sie die Schwelle überquerten und in ihre Diele traten, als glaubte er voll und ganz an die Möglichkeit einer Bedrohung in diesem sichersten aller Wohnhäuser.
Wenn das der Fall war, war sie nicht dumm genug sich einzubilden, ihre Geschichte von dem Dämon im Geschirrkabinett sei derart elektrisierend gewesen, dass sie einen unerschütter lichen Investmentberater und früheren Marine davon überzeugt hatte, hier sei etwas Übernatürliches im Gange. Er würde nur dann auf der Hut sein, wenn er selbst etwas erlebt hatte, was ihre Geschichte bekräftigte.
»Das ist nett von Ihnen, Bailey. Und ich nehme Ihr Angebot gern an. Ich bin immer noch ein bisschen … zittrig.«
Sowie sie in ihrer Wohnung waren, übernahm er unauffällig die Führung, blieb an ihrer Seite und manövrierte sie nicht in der Reihenfolge durch die Räume, die sie gewählt hätte, sondern hielt sich stattdessen vielleicht an die Strategien, die man ihm beim Militär beigebracht hatte. Er schien nicht zu glauben, dass er eine gefährliche Durchsuchung vornahm, denn er behielt weitgehend die Haltung eines freundlichen Nachbarn bei, der sich mehr um ihren Seelenfrieden sorgt als um eine echte Gefahr, in der sie schweben könnte, doch Sally nahm trotzdem die Ernsthaftigkeit wahr, mit der er diese Aufgabe absolvierte.
Er schaltete nicht nur die Deckenbeleuchtung an, sondern auch eine Lampe nach der anderen, und als sie auch im letzten Raum keinen Eindringling gefunden hatten, sagte er: »Sie sollten vielleicht besser alle oder die meisten Lichter brennen lassen, bis Ihre Nerven sich beruhigt haben und Sie sich wieder rundum wohlfühlen. Ich täte das an Ihrer Stelle, das ist doch ganz natürlich.«
Als sie wieder in der Diele standen und Bailey seine Hand auf den Türknopf legte, sagte Sally: »Was haben Sie gesehen?«
Er schaute sie an, als wollte er sagen, er verstünde ihre Frage nicht, doch dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. »Nicht das, was Sie gesehen haben. Aber etwas … Sonderbares. Ich denke noch darüber nach und verarbeite es. Hören Sie, sind Sie wirklich sicher, dass Sie allein hierbleiben wollen? Martha und Edna brächten Sie bestimmt gern für eine Nacht in ihrem Gäste zimmer unter.«
»Ich weiß. Aber ich lebe seit fast zwanzig Jahren in dieser Wohnung. Wenn ich hier nicht sicher bin, dann wäre ich es nirgendwo. All meine Sachen sind hier, meine besten Erinnerungen. Im Moment brauche ich nur das Gefühl, dass alles so ist, wie es sein sollte – normal, ganz gewöhnlich. Mir fehlt nichts. Das wird schon wieder.«
Er nickte. »In Ordnung. Aber rufen Sie mich an, falls Sie Hilfe brauchen. Ich komme sofort runter.«
Fast hätte sie ihn gebeten, noch ein Weilchen zu bleiben, aber wenn sie mit Bailey allein wäre, könnte sie vielleicht nicht verbergen, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Vielleicht würde sie es gar nicht vor ihm verbergen wollen . In all diesen Jahren, die sie allein verbracht hatte, war sie nicht einsam gewesen, doch manchmal sehnte sie sich nach einem zärtlichen Gefährten. Falls er ihr Interesse bemerkte und nicht darauf reagierte, käme sie sich töricht vor und wäre beschämt. Aber wenn er darauf reagieren würde, war sie sich andererseits nicht sicher, ob sie sich auf mehr als eine platonische Freundschaft einlassen
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