Nachthaus
Straßen und Gebäuden, die sich wie die gestaffelten Decks eines gigantischen Schiffs auf einer wundersamen Reise erhoben. Zeuge vergoss Tränen angesichts dieser Schönheit und der Tragödie, die ihr bevorstand.
Das Eine
Die kleine Sophia Pendleton springt im Jahr 1897 die Treppe hinunter, aber auch 1935, 1973, 2011 und in jedem darauffolgenden achtunddreißigsten Jahr, obwohl sie schon längst tot ist. Während des kurzen Zeitraums zwischen dem ersten Spalt in der Raum-Zeit-Falltür und dem Moment, in dem sie weit aufgerissen wird, müssen sämtliche früheren und zukünftigen Übergänge denselben Moment in der Gegenwart einnehmen und sich kurz miteinander vermischen. Ich habe Sophia das Leben ausgesaugt, bevor das neunzehnte Jahrhundert zum zwanzigsten wurde; und doch singt sie auch im Jahr 2011 ihre Kinderreime und kommt die Treppe hinunter wie 1897, für diesen kurzen Moment unsterblich.
Ebenso schlendert ein indianischer Krieger aus dem Jahre 1821 fast eine Minute lang durch die Küche des Bankettsaals und durch den südlichen Flur im Erdgeschoss. Er ist verwirrt und verängstigt und hält einen Tomahawk abwehrbereit erhoben. Aber er verblasst, bevor ihm jemals ein Mensch begegnet.
Damals, im Jahre 1897, eilt Sophia in die Küche des Belle Vista, um ihr geraspeltes Eis mit Kirschsirup zu genießen, und verschwendet dabei keinen Gedanken an das harte Leben des Eismanns, der dreimal in der Woche die zwanzig Kilo schweren Blöcke ins Haus liefert. Gegen Ende seiner mittleren Jahre wird er sich zweifellos verausgabt haben, jung sterben und diese Welt so arm verlassen, wie er sie betreten hat.
Aber Ausbeutung bedeutet nicht immer und noch nicht einmal allzu oft, dass die Reichen den Armen das Blut aussaugen. Auch die Reichen können ausgebeutet werden, von Leuten wie dem neidischen Wachmann, der dabei ist, ein Enthüllungsbuch zu schreiben, von gedungenen Mördern wie dem Sohn der berühmten Intellektu ellen. Indianer wurden von den Europäern ausgebeutet, aber viele indianische Stämme hatten einander vorher bekriegt und sich gegenseitig versklavt. Wie ihr festgestellt habt, liegt es in der menschlichen Natur, andere Menschen skrupellos auszubeuten und zudem die Natur zu verwüsten, wieder und immer wieder im Lauf der Jahrhunderte. Keine Gesellschaftsschicht, Rasse oder Interessengruppe hat sich dieses Verbrechens nicht schuldig gemacht.
Im Königreich des Einen kommt es nie zur Ausbeutung eines Individuums durch ein anderes. Keine Herren, keine Sklaven. Kein Reichtum, keine Armut. Jedes Raubtier ist Beute und jede Beute ist ein Raubtier. Die Erde wird nie um ihres Öles oder ihres Goldes willen aufgerissen und entstellt. Ich bin die Erfüllung eurer Vision, die Rechtfertigung eures Lebens.
Denkt an den Jungen, den Sohn der Songwriterin, der davon träumt, ein Held wie die in den Büchern zu sein, die er unaufhörlich liest. Da er danach lechzt, ein Held zu sein und ein übermenschliches Leben zu führen, stellt er für alles, woran ihr glaubt, keine geringere Bedrohung dar als für mich. Es liegt in der Natur von Helden, überdimensionale Fußabdrücke zu hinterlassen, gewaltig aufgebauschte und gefährliche Legenden; daher kann in einer geregelten und effi zienten Welt kein Platz für sie sein.
Der Junge wird keine Hoffnung mehr haben, ein Held zu werden, wenn seine Augen aus ihren Höhlen gefressen worden sind, wenn seine Zunge sich so schwarz färbt wie Kohle und verstummt und wenn ich in sein Herz hineingreife und mich durch seine pochenden Kammern winde.
22 Apartment 2-F
Dr. Kirby Ignis verbrachte den späteren Nachmittag in einem Sessel, nippte an heißem grünem Tee, hörte sich auf Chinesisch gesungene italienische Opern an und beobachtete tropische Fische, die träge in dem großen beleuchteten Aquarium herum schwammen, das an einer der Wände seines Wohnzimmers stand.
Kirby gehörte eine der bescheideneren Wohnungen im Pendleton, obwohl er sich ein Herrenhaus auf einem großen Grundstück hätte leisten können. Seine zahlreichen Patente hatten ihm beträchtliche Einnahmen eingetragen und die Lizenzeinkünfte flossen von Jahr für Jahr in breiteren Strömen.
Er konnte sich die nobelste Inneneinrichtung leisten, entschied sich jedoch für ein schlichtes Leben. Seine unauffälligen Möbelstücke bezog er aus den Lagerverkäufen diverser Großmärkte und berücksichtigte dabei lediglich Funktionalität und Komfort.
Auch wenn er die schönen Künste zu schätzen wusste, ver spürte er nicht
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