Nachtjaeger
keinen Moment lang aus den Augen. Da die Wolkendecke noch immer nicht aufgerissen und auch der Wald um sie herum noch dunkel war, konnte er Jenna problemlos erkennen. Sie war schneeweiß, so weiß wie die vollkommenste aller Perlen – exotisch schimmernd und selten.
Er hatte bereits so manche Geschichte über weiße Panther gehört. Mitglieder seines Stammes in jenen lange vergangenen, paradiesischen Tagen, als sie noch Göttern gleich auf der Erde lebten und ehe alles um sie herum zusammenbrach, waren weiß gewesen. Doch so ein Wesen mit eigenen Augen zu sehen, es zu fühlen …
Er war so verblüfft, dass er zu atmen vergaß.
Im Wald war es düster und feucht. Die Bäume waren nebelverhangen, und einige Schwaden reichten bis zum Boden herab. Weiter oben waren die Kronen der Bäume nicht mehr zu sehen, so dicht hatte sich das helle Licht um sie gelegt.
Sie befanden sich im ältesten Teil des Waldes, in dem noch nie zuvor ein Mensch gewesen war, verborgen wie ein Schatz mitten im Herzen des New Forest. Die Bäume wurden hier bis zu hundert Meter hoch, und der Boden war unter einer zentimeterdicken Schicht von duftendem Laub, Moos und Piniennadeln verborgen. Hier herrschte eine Stille, die nur durch das Gezwitscher von Vögeln und das Tropfen von Wasser durchbrochen wurde, das von den Ästen zu Boden fiel, wo es versickerte.
Jenna bewegte sich direkt vor ihm wie ein Geist durch den Wald. Sie hob sich hell und wunderschön von den dunklen Bäumen und dem dichten Unterholz ab, das sie durchstreifte, als würde sie all seine Geheimnisse kennen. Kein einziges Blatt wurde von ihr zerdrückt oder abgerissen. Nur der Nebel wand sich um ihre Beine und teilte sich lautlos, als sie vorbeirannte und nur helle Wirbel zurückließ.
Leander reckte den Kopf und streckte die Beine, so weit es ging, mit jedem Sprung aus. Seine Pfoten versanken in dem weichen Waldboden. Das Ziehen in seinen Muskeln und Sehnen ließ ihn die Zähne fletschen, während er sich aufs Höchste anstrengte, um Jenna nicht zu verlieren. Sie war rasend schnell und geschmeidig. Sicher und herrlich genau vermochte sie umgefallene Baumstämme, dicke Äste und feucht schimmerndes Laub zu überwinden, wobei sie wie ein elfenbeinfarbener Wind durch die uralten Bäume glitt.
Noch nie zuvor hatte er eine solche Schnelligkeit gesehen. Noch nie zuvor hatte er eine solche Schönheit gesehen.
Er bemühte sich, hinter ihr zu bleiben. Während sie sich durch den Wald bewegten, lauschte er dem Prasseln des Regens, wie er auf die Erde und die dort liegenden Steine fiel. Er beobachtete sein schönes Phantom, das sich wie der Wind bewegte und einen mächtigen weiblichen Duft ausstrahlte, der seinen ganzen Körper erfasste und ihn noch stärker als zuvor in Bann zog.
Sie musste es sehen. Sie musste so weit wie möglich hochkommen und von oben ihren Wald betrachten.
Da. Dieser Baum da vorne. Riesig, weit nach oben reichend, ein Stamm wie ein Hochhaus, dessen obere Äste sich im Nebel verloren.
Sie sprang vom Waldboden ab und landete leichtfüßig in fünf Meter Höhe auf einem Ast. Ihre Klauen vergruben sich in der duftenden Rinde. Für den Bruchteil einer Sekunde hielt sie still und sah, ob sie das Gleichgewicht zu halten vermochte. Sie spürte, wie der Wind durch ihr Fell blies. Dann hob sie den Kopf und blickte zum Himmel und zu dem regennassen Baldachin aus Ästen und Zweigen hinauf, durch den ein wenig Licht fiel.
Sie stieß sich ab und begann, den Stamm hinaufzuklettern.
Als sie schließlich nicht weiterkam, sprang sie auf einen Ast, der so breit wie ein Doppelbett war. Sie landete auf allen vieren und kauerte sich hin, ehe sie zum Ende des Astes kroch. Die Rinde war kühl und rau unter ihren Pfoten. Dort konnte man durch eine Lücke in den dichten Blättern nach oben blicken.
Endlich vermochte sie über den Wald zu sehen. Er präsentierte sich ihr wie ein wunderbar gedeckter Tisch. Mit ihrem scharfen Blick sah sie, wie das Sonnenlicht auf die nassen Baumwipfel fiel und dort kleine Regenbögen zum Leuchten brachte. In der Ferne waren saphirblaue Hügel und Täler zu erkennen. Regen und Nebel tauchten schwarze Wälder, smaragdgrüne Moore und Wiesen voller Wildblumen in ein unwirklich schönes Licht.
Sie ließ sich auf ihren Hinterläufen nieder und hob die Nase, um den Westwind zu riechen. Dann schloss sie die Augen.
Eulen machten es sich in den hohlen Baumstämmen bequem. Rehe schlichen durch trockenes Laub auf der Suche nach herabgefallenen Beeren.
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