Nachtjaeger
die plötzlich in Gewalt ausbrechen konnten. Ihr menschliches Bewusstsein und jeder Teil ihres menschlichen Herzens wurden in solchen Momenten von dieser Urgewalt erfasst. Sie vermochten zwar noch immer ihre Vernunft, ihre Erinnerung und den Kern ihrer Persönlichkeit zu bewahren, aber sie wurden auch höchst unberechenbar, oft sogar tödlich.
In Pantherform und mit dem Zorn, der sich im Moment in Jennas Augen widerspiegelte, wäre sie in der Lage gewesen, Leander problemlos zu töten. Sie wäre voll frischer, unverbrauchter Kraft, ihre Emotionen wären ungebremst und überwältigend, und ihrem Instinkt, die Quelle ihrer Qualen anzugreifen, wäre kein Einhalt zu gebieten.
Also blieb er so, wie er war, während er sich gleichzeitig innerlich auf die Gefahr einstellte, die ihm von ihr drohte. Sein Blut schoss schneller durch seine Venen, seine Muskeln, jede Faser seines Körpers zitterte, so sehr konzentrierten sie sich darauf, ihre menschliche Form zu erhalten.
»Ich war damals noch nicht Alpha, Jenna. Ich war kaum älter als ein Kind.«
Ein Blitz erhellte den Himmel über ihnen und tauchte einen Moment lang alles in ein grelles weißes Licht. Dem Blitz folgte weiterer Donner, und dann schien der Regen noch stärker zu werden. Sie waren beide klatschnass. Er wusste, dass ihr eiskalt sein musste, hatte sie doch nur ihre Haarmähne, um sich vor den Elementen zu schützen.
Doch Jenna machte keinerlei Anstalten, sich zu erheben. Sie ignorierte den Regen und das Gewitter und starrte nur auf Leanders Gesicht – und zwar mit einem Ausdruck, der ihn so sehr schmerzte, als ob ihm ein Dolch mitten ins Herz gestoßen worden wäre.
Hass. Sie starrte ihm mit unverhülltem, gnadenlosem Hass entgegen.
»Ich glaube dir kein Wort.« Es war beinahe ein Knurren, das zornige Fauchen eines Tieres.
Kälte und Regen schnitten weiterhin in ihre Haut. Die Regentropfen fielen in das hohe Gras und fielen von Leanders Nasenspitze. Er spürte plötzlich, wie es glühend heiß zwischen ihnen knisterte, und konnte bereits den ihm so vertrauten Geruch von Rauch und Schießpulver wahrnehmen, der hinten in seinem Rachen aufstieg. Er wusste, was jetzt passieren würde.
»Ich würde dich niemals anlügen, Jenna«, sagte er heiser, wohlwissend, dass er sein eigenes Leben in Gefahr brachte, wenn er sich nicht sofort verwandelte, ehe sie es tat. »Ich schwöre es dir. Ich würde dich niemals anlügen.«
Er sah zu, wie sie, zitternd, zu keuchen und zu blinzeln begann. Ihr Blick ging einen Moment lang ins Leere, ehe sie wieder zu fokussieren vermochte. Ihre Augen wurden zu schmalen, leuchtend grünen Punkten, die sich in animalischem Zorn immer mehr zu verengen schienen.
Ihre Pupillen verwandelten sich zu schwarzen, vertikalen Schlitzen, und ihre Augen glühten nun in einem unwirklichen Malachitgrau. Das Zittern ihres Körpers wurde immer heftiger. Ihre Gliedmaßen zuckten, als ob unsichtbare Ameisen über jeden Millimeter ihrer Haut krochen. Doch noch bewegte sie sich nicht von der Stelle. Sie strahlte größte Feindseligkeit aus, zusammengerollt wie eine tödliche Kobra, die zum Angriff bereit war.
Leander spürte es. Er wusste, dass es kam.
Der eiskalte Wind raubte ihm fast den Atem.
Als ein weiterer Blitz den Himmel erhellte und den regendurchtränkten Friedhof, in dem sie knieten, in sein Licht tauchte, verwandelte sich Jenna in einen Panther.
22
Erde. Himmel. Bäume. Regen. Er.
Alles zur gleichen Zeit.
Vollkommenes Bewusstsein. Vollkommene Wahrnehmung.
Kraft.
Macht.
Noch nie zuvor hatte sie etwas erlebt, das sich mit dieser Erfahrung vergleichen ließ – mit dieser gewaltigen Flut wilder Elektrizität, die durch ihre Venen schoss. Ein stechender Schmerz flammte in ihr auf, als sich die Knochen, Muskeln und die Sehnen verwandelten – nur flüchtig, aber umso schrecklicher. Dann folgte eine wunderbar schmerzliche Hingabe, die ihr Blut in Wallung brachte und über ihre Haut glitt. Ihr war fast schwindlig vor Freude. Der Ansturm von ungebändigter Kraft und Sinnlichkeit brachte jedes Molekül in ihrem Körper zum Vibrieren.
Ihr neuer, stromlinienförmiger, muskulöser Körper.
Sie erinnerte sich an die schwachen menschlichen Emotionen, die sie noch wenige Momente zuvor empfunden hatte. Kaum vermochte sie zu sagen, ob es Wut oder Angst gewesen war. Nur noch ein letzter Rest davon hing wie billiges Parfüm in der Luft. Sie war jenseits von all diesen schwachen Gefühlen und drängte in eine Welt, die so viel besser, so viel
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