Nachtjaeger
Sie fielen wie Papierpuppen um, als er mit seinem vollen Gewicht zornig fauchend auf ihnen landete. Wie durch Watte vernahm sie das Knacken von Knochen, als ob man über trockenes Laub liefe. Eine blutrote Fontäne spritzte durchs Zimmer und hinterließ einen langen, tropfenden Streifen an der Decke.
Sieht beinahe hübsch aus, dachte sie und blickte ruhig und mit einer friedlichen Distanziertheit auf das Blut über ihr. Es ist beinahe wie … Kunst. Performance-Kunst.
Sie konnte nichts mehr fühlen. Sie spürte weder ihre Arme noch ihre Beine, weder den Schmerz noch Entsetzen oder Angst oder irgendetwas, das an eine Emotion erinnerte. Eine Weile suchte sie nach dem richtigen Begriff für diese Gelassenheit, bis ihr klar wurde, was sie empfand: Sie überließ sich einfach ihrem Schicksal.
Diese Erkenntnis brachte ihr zu Bewusstsein, dass sie sterben würde.
Plötzlich war ein weiterer Mann im Zimmer, der den geschmeidigen schwarzen Panther mit einem Messer angriff. Die Klinge funkelte im kalten Licht der Lampe über ihren Köpfen. Mit einem mächtigen Biss wurde dem Mann das Herz aus der Brust gerissen. Das pochende Organ hing einen Moment lang zwischen den Zähnen des Raubtiers, ehe dieses es beiseiteschleuderte. Noch mehr spritzendes Blut, noch mehr stumme Schreie. Das Messer befand sich noch immer auf seiner Reise nach unten, als alles abrupt endete. Der Panther verwandelte sich wieder in einen Mann – in einen sehr schönen, nackten Mann –, und die Messerklinge bohrte sich in seine Brust.
Er taumelte.
Der Mann ohne Herz stürzte zu Boden.
Alles wurde still.
Jenna vermutete, dass sie jetzt kurz vor dem Tode stand. Ihr Vater war nämlich wieder da und saß auf dem Stuhl neben dem Holztisch. Er betrachtete sie ernst und sah so aus, als ob er ihr etwas sagen wollte. Er hatte gerade den Mund geöffnet, um zu sprechen, als sich der Panther wieder in seine menschliche Gestalt zurückverwandelt hatte und als wunderschöner nackter Mann neben ihr Bett eilte. Sie sah jetzt nichts anderes mehr im Zimmer als seine goldene, muskulöse Gestalt.
»Bleib bei mir, Jenna!«, rief er und riss die Ketten, die ihre gefesselten Handgelenke an die Bettpfosten banden, entzwei. Auf seiner Brust war eine Wunde, aus der Blut floss, das überall verschmierte. Er riss noch zweimal an den Ketten und hatte ihre Beine befreit.
»Bleib bei mir!«
Sie versuchte ihm zu sagen, dass alles in Ordnung war. Sie würde jetzt woanders hingehen, an einen Ort, wo sie ihren Vater wiedersehen konnte und wo es keine Schmerzen, keine Verwirrung, keine Geheimnisse oder Lügen, kein Weglaufen und auch keine Spinnen mehr gab. Doch das Einzige, was aus ihrer Kehle drang, war ein Seufzer.
Sie blickte zu ihm auf. Seine langen, dunklen Haare fielen ihm in Wellen über die Schultern und umrahmten sein herrliches Gesicht mit den flehenden Augen. Er rief jetzt etwas anderes. Seine Lippen bewegten sich wie in Zeitlupe, aber sie konnte nichts hören und dachte, dass es vielleicht sowieso nicht mehr wichtig war.
Eine Sache war jedoch wichtig. Sie wünschte, sie hätte die Stärke, den nächsten Satz laut auszusprechen.
Ich liebe dich, dachte sie und fiel – schwebte, stürzte in das wirbelnde schwarze Wasser. Es stieg ihr über die Brust und den Hals bis zu ihrem Kinn, ihren Wangen und der Nase. Es schwemmte den Himmel und den Mond und all die funkelnden Sterne fort.
Leander, ich liebe dich.
Sie hoffte, dass er sie verstand.
Dann schloss sie die Augen und sank in den dunklen Fluss, der die ganze Zeit darauf gewartet hatte, sie in sich aufzunehmen. Sie hörte das Echo ihres letzten Gedankens immer und immer wieder – wie ein Refrain, wie im Traum. Sie hörte diese drei Worte, die sie nicht mehr hatte laut aussprechen können, weil sie zu schwach war.
Ich liebe dich.
30
Jenna starb nicht.
Allerdings erholte sie sich auch nicht ganz. Über eine Woche lang verweilte sie in einem Zustand ruhelosen Schlafes, in der sie sich die ganze Zeit im Bett hin und her warf. Gelegentlich durchbrach sie ihr unheimliches, schreckliches Schweigen durch ein leises Stöhnen.
Leander, der sie Tag und Nacht von dem Stuhl bei der Tür oder dem Sofa am Ende des Himmelbetts beobachtete oder nervös in ihrem Zimmer auf und ab tigerte, war in einem ähnlichen Zustand der Stagnation. Er konnte weder trauern noch konnte er sich freuen. Sie war da, aber sie war es auch nicht, und der Arzt konnte ihm wenig Hilfreiches sagen.
»Sie ist stark, Leander. Aber sie hat Schreckliches
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