Nachtkalt: Psychothriller (German Edition)
geschwungene Klinge des Dolches zeigte eine Maserung, wie man sie von gefaltetem Stahl kannte, und den Griff zierte ein Ornament aus dornigen Rosen.
Obwohl sie wusste, dass sie Gerald mit zu vielen Fragen überforderte, konnte sie nicht anders. Mit etwas zu schriller Stimme fragte sie: »War da eben ein Mann bei dir? Hat er dir so einen Dolch gezeigt? Bist du verletzt?«
Gerald senkte erst den Blick, um sein eigenes Bild zu betrachten, dann hob er den Kopf und sagte einfach nur: »Netter Mann.«
Es gab oft Situationen, in denen es besonders schwer war, nicht aus der Haut zu fahren. Jetzt und hier aber hätte Anja ihren Bruder am liebsten gepackt und durchgeschüttelt. Nicht genug damit, dass es offenbar ein Psychopath auf sie abgesehen hatte und die Polizei keinerlei Anstalten machte, ihr zu helfen – nein, ihr Bruder hielt auch noch einen netten Plausch mit diesem Irren. Wütend nahm sie ihm das Bild aus der Hand und sagte barsch: »Los, wir gehen!«
Gerald erhob sich zwar, schaute aber derart wehmütig in den Wald, als hoffte er, dass der Mann zurückkäme. Anja, die schon einige Schritte in Richtung Haus gemacht hatte, drehte sich noch einmal um, und dieses Mal war es der Befehl »Wir gehen jetzt!«, worauf sich Gerald tatsächlich in Gang setzte und ihr lustlos bis zum Haus folgte.
Dort angekommen, holte Anja Mutters Dose Pfefferspray aus der Kommode im Flur und begann das komplette Haus abzusuchen. Trotz ihrer Ängste ließ sie nicht einmal den Keller aus, wobei es ihr das durch einen Lichtschacht einfallende Tageslicht leichter machte, sich hier unten umzusehen. Als das getan war und sie nichts Auffälliges gefunden hatte, zündete sie sich eine Zigarette an und wählte die Nummer der jungen Polizistin. Es brauchte nur drei Freizeichen, dann wurde abgehoben: »Polizeimeisterin Krämer, Hauptwache Erlangen, was kann ich für Sie tun?«
Anja sagte ihren Namen, woraufhin die Polizistin sagte: »Sie waren doch gerade erst bei uns, ist schon wieder etwas vorgefallen?«
Anja schilderte, was sich draußen zugetragen hatte, dann herrschte einige Augenblicke Stille in der Leitung und als die Polizistin wieder zu reden begann, erkannte Anja schon am Tonfall des ersten Wortes, was sie nun zu hören bekommen würde.
»Frau Lange, ich weiß, dass diese Situation sehr belastend für Sie ist …«, begann die Polizistin. Anja vervollständigte den Satz mit zynischer Stimme: »Ich weiß schon … das ist alles noch nicht schlimm genug und Sie können nichts für mich tun. Richtig?«
Wieder herrschte einen Moment lang Schweigen, bis die Polizistin fragte: »Haben Sie wirklich keine Ahnung, wer dieser Mann sein könnte, oder was er von Ihnen will? Wenn ich wenigstens einen Namen hätte, könnte ich zumindest Nachforschungen anstellen. Sie müssen mich verstehen, ein Schatten im Wald und zwei Anrufe sind eine sehr dünne Basis für Ermittlungen, dafür stellt mich mein Chef nicht ab.«
Anja brauchte nicht über die Frage nachzudenken, denn sie war jeden, den sie kannte, schon x-mal im Kopf durchgegangen, daher antwortete sie: »Nein, wie ich Ihnen vorhin schon sagte, ich habe keine Ahnung, wer das sein könnte, und so wie es der Anrufer angedeutet hat, gibt es auch keine frühere Verbindung zwischen uns.«
Nun klang auch die Polizistin etwas resigniert: »Dann kann ich Ihnen nur raten, weiterhin sehr wachsam zu sein, und notieren Sie sich jedes Detail, falls es wieder zu einem Kontakt kommt. Schreiben Sie alles auf, was Ihnen auffällt. Hintergrundgeräusche, die genaue Uhrzeit, einen eventuellen Sprachfehler oder Dialekt … einfach alles. Und bitte informieren Sie mich, wenn wieder etwas passiert. Ich weiß, Sie sind enttäuscht von uns, aber auch wenn es sich anders anhört, ich glaube Ihnen und ich nehme Sie ernst.«
Nachdem sich Anja etwas unterkühlt verabschiedet hatte, legte sie auf und machte Gerald ein kleines Mittagessen. Dass dieser durch das Küchenfenster hindurch Kontakt nach draußen hatte, bekam sie dabei nicht mit.
14
Eigentlich wollte Anja sich nach dem Mittagessen kurz auf das Sofa legen, doch als Gerald sich nicht davon abbringen ließ, sie schlafend malen zu wollen, gab sie dieses Unterfangen auf und holte sich stattdessen den aktuellen Lernstoff. Eine halbe Stunde lang schaffte sie es tatsächlich, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, dann klingelte das Telefon. Im Kopf noch mit dem Aufbau einer Tumorzelle beschäftigt, hob sie ab und meldete sich mit »Anja Lange«.
»Ich mag es, wenn du
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