Nachtkalt: Psychothriller (German Edition)
das ist normal, hier verschwinden ständig wichtige Unterlagen.« Offenbar hatte die Frau einen Clown zum Frühstück gegessen, was Anja an einem anderen Tag nicht gestört hätte, doch jetzt war ihr absolut nicht nach Scherzen zumute. Auch wenn es ihr augenblicklich leidtat, war ihr Tonfall viel zu scharf, als sie erwiderte: »Hören Sie, ich habe wirklich keine Zeit für Scherze! Wissen Sie nun, wo meine Akte ist oder nicht?«
Die Angestellte, kaum älter als Anja selbst, hob beide Hände und antwortete nun amtlich: »Ja. In Ihrem Fach liegt ein Laufzettel, der besagt, dass Ihre Akte letzten Freitag zum Professor der Rechtsmedizin gebracht wurde. Normalerweise kommen die Unterlagen schneller wieder zurück, aber bei Dr. Gruber dauert das öfter etwas länger, der hat wohl andere Prioritäten.« Nun konnte sich auch Anja ein Schmunzeln nicht verkneifen, da der Mann tatsächlich etwas kauzig war. Sie bedankte sich, nahm Gerald, der vor einer für ihn völlig sinnlosen Pinnwand stand und die Zeiten der einzelnen Vorlesungen studierte, an die Hand und verließ das Verwaltungsgebäude.
In der Gerichtsmedizin hatte Anja zum zweiten Mal Glück an diesem Tag, da Dr. Gruber sich nur mit einem anderen Mann unterhielt und nicht mitten in einer Obduktion war. Sie setzte Gerald auf einen der wenigen Stühle, auf denen sonst Angehörige darauf warteten Opfer zu identifizieren, und klopfte an die halb offen stehende Tür des Doktors. Das Gespräch, welches sich offenbar um die kürzlich gefundene Asiatin drehte, erstarb augenblicklich und Anja wurde hereingerufen.
Der zweite Mann im Raum, dessen Augenränder ihn auf den ersten Blick älter machten, als er war, sah etwas empört zu Dr. Gruber, doch dieser winkte ab: »Kein Grund zur Sorge, selbst wenn sie etwas gehört hat; Frau Lange ist zum Schweigen verpflichtet. Sie war eine der Studentinnen, die bei der Obduktion dabei war.«
Der junge Mann wirkte erleichtert, erhob sich von der Tischkante, auf der er gesessen hatte, und stellte sich fast schon schüchtern Anja vor: »Bitte entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit, wir hätten die Tür schließen sollen. Ich bin Kriminalkommissar Jänke … Mordkommission.«
Anja gab dem Mann die Hand, stellte sich ebenfalls vor und wollte sich anschließend an Dr. Gruber wenden. Erst wusste sie nicht, warum ihr der Kommissar so bekannt vorkam, doch nach einem weiteren Blick fragte sie: »Kann es sein, dass ich Sie schon einmal in der Zeitung gesehen habe?«
Auf dem Gesicht des vielleicht Dreißigjährigen zeichnete sich eine leichte Rötung ab: »Möglich, aber das ist schon eine ganze Weile her. Es ging damals um diese Mordserie in Nürnberg, bei der einige hochgestellte Herrschaften ermordet wurden.«
Anja nahm den Faden auf: »Ja, genau. Sie waren es doch, der letztlich den Täter ermittelte, oder?«
Die Rötung in Jänkes Gesicht wurde noch eine Stufe intensiver und mit einem relativierenden Tonfall erwiderte er: »Stimmt, aber ich hatte nur Glück.«
Anja gefiel dieser Polizist. Diese zurückhaltende Art passte zwar überhaupt nicht zu einem Kommissar der Mordkommission, aber genau das machte ihn sympathisch.
»Was kann ich denn für Sie tun?«, erkundigte sich Dr. Gruber, nachdem keiner mehr etwas sagte, und holte Anja damit aus ihren Gedanken. Diese brauchte zwei Sekunden, um ihr Anliegen zu formulieren, und sagte dann: »Ich suche meine Studentenakte. In der Verwaltung liegt ein Laufzettel, dass man diese zu Ihnen gebracht hat.«
Dr. Gruber kniff kurz die Augen zusammen, entrunzelte dann aber seine Stirn und drehte sich zu einem flachen Regal, auf dem sich ein Berg von diversen Unterlagen stapelte, und begann zu suchen. Noch während dieser Tätigkeit murmelte er mehr zu sich selbst und gerade noch verständlich: »Ach ja, die Akten. Seltsame Sache.«
Anja wurde hellhörig und fragte vorsichtig: »Was haben Sie gerade gesagt, Herr Doktor?«
Dr. Gruber hielt kurz inne, zog dann aber einen kleinen Stapel brauner Pappumschläge aus dem Haufen und drehte sich mit den Worten »Ich sagte: seltsame Sache. An dem Tag, als ich mit Ihnen und Ihren Kollegen die Obduktion durchgeführt habe, brachte mir ein jüngerer Mann die Unterlagen.« um.
»Und was ist daran seltsam?«, hakte Anja nach.
Der Doktor zuckte mit den Schultern: »Ich habe die Akten nie angefordert … wozu auch?«
»Können Sie den Mann beschreiben?« Anja witterte eine Spur.
»Nun ja …«, begann der Doktor etwas gedehnt, »… das war ebenfalls seltsam,
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