Nachtkalt: Psychothriller (German Edition)
dann weiter: »Natürlich würde es Sie ein paar Euro kosten, aber ich kann Ihnen nur raten, sich wenigstens einmal mit ihm zu unterhalten. Diese Anrufe müssen nichts bedeuten, es kann aber durchaus sein, dass dieser Typ es ernst meint.« Nachdem Anja keine Anstalten machte, etwas zu erwidern, fügte er etwas leiser hinzu: »Ich möchte nicht, dass Ihnen oder Ihrem Bruder etwas passiert.«
Anja war immer noch wütend, sagte aber ein wenig versöhnlicher: »Ich werde sehen.« Dann nahm sie ihren Bruder, der Jänke die ganze Zeit über missbilligend betrachtet hatte, an die Hand und ging davon.
Und auch in den Schatten eines nahen Kellerabganges kam Bewegung. Erst in Form des Auslösers einer hochauflösenden Kamera, dann trat die Gestalt ebenfalls auf die Straße und ging den beiden hinterher.
15
So sehr Anja auch an Gerald zog, er lief nicht schneller. Nachdem sie ihrer Mutter im Krankenhaus noch einen Besuch abgestattet hatten, gingen beide in Richtung Busbahnhof, doch für ihren Bruder war das alles ein lustiger Ausflug und den genoss er sichtlich. Wie ein kleines Kind bewunderte er alles, was in sein Blickfeld kam, und machte es Anja damit unmöglich schneller voranzukommen. Als seine Schwester dann auch noch beschloss, kurz in einen Drogeriemarkt zu gehen, zeigten sich sogar Regungen der Freude in seinen Augen.
Einen Augenblick lang beneidete Anja ihren Bruder, für den es keine echten Sorgen zu geben schien. Für ihn war alles ein Abenteuerspielplatz und wenn es ihm zu viel wurde, zog er sich einfach in sich selbst zurück. Wie eine Schnecke in ihr Haus, dachte Anja, hatte aber ob dieser Gedanken augenblicklich ein schlechtes Gewissen. Gerald war immerhin behindert und so durfte man nicht über einen Behinderten denken.
Anja benötigte eigentlich nur ein paar Hygieneartikel, blieb aber aus Gewohnheit vor dem schmalen Aufsteller stehen, in dem die aktuellen Buchbestseller präsentiert wurden. Da sie im Augenblick alles andere als Krimis oder Thriller brauchen konnte, nahm sie einen Liebesroman heraus, schob ihre Umhängetasche etwas nach hinten und begann die ersten Zeilen zu lesen. Gerald war mit einer ziemlich futuristisch aufgemachten Comiczeitschrift beschäftigt, was Anja die Möglichkeit gab, ihre Kaufentscheidung noch ein wenig abzuwägen. Tatsächlich erinnerte sie der Beginn des Buches an ihr Kennenlernen mit Florian und schaffte es damit, dass Anja ihre Umwelt für einen kurzen Moment ausblendete und auch noch die zweite Seite las.
»Ich muss hier durch!« Anja schreckte hoch und brauchte eine Sekunde, um zurück in die Realität zu finden. Neben ihr stand eine ausgedörrte, auf die Farbe eines welken Blattes gebräunte Frau im weißen Kittel, die eine winzige Schachtel Katzenfutter in Händen hielt und damit locker an ihr vorbeigekommen wäre. Da heute nicht der Tag für Gutmütigkeit war, blickte Anja sich demonstrativ um und antwortete schnippisch: »Na, dann gehen Sie doch durch, oder soll ich Ihnen tragen helfen?«
Nun nahmen die Gesichtszüge der Verkäuferin raubtierartige Konturen an. Sie nickte zu dem Buch in Anjas Händen und fragte: »Möchten Sie das kaufen, oder gleich hier lesen?«
Anjas erster Reflex war, das Buch einfach zurück in den Aufsteller zu feuern und die anderen Artikel, die Gerald in einem kleinen Körbchen trug, einfach stehen zu lassen. Doch stattdessen besann sie sich, legte das Buch auf den Karton, den die Verkäuferin in Händen hielt und sagte mit süßer Stimme: »Ich möchte es kaufen. Wenn Sie so freundlich wären, es mir zur Kasse zu tragen.«
Das Gesicht der Dame, die laut ihrem Namensschild Frau Heinrich hieß, verfärbte sich ins Rotbraune und es war nicht schwer zu erkennen, dass sie kurz vor einem Ausbruch stand, als ein Herr im dunklen Anzug in die Regalreihe einbog und fragte: »Frau Heinrich, haben Sie schon die Wochenberichte fertig? Ich muss dann langsam los.«
Anja beobachtete fasziniert, wie die Raubkatze zum Stubentiger wurde und dem Mann süßlich antwortete: »Einen Moment noch, Herr Klein, wenn ich die Dame bedient habe, komme ich ins Büro.« Dummerweise machte der offenbar höhergestellte Mann keinerlei Anstalten die Regalreihe wieder zu verlassen und so blieb dieser Frau Heinrich nichts anderes übrig, als Anja das Buch bis zur Kasse zu tragen. Ohne jedes weitere Wort ließ sie es dort von ihrem Karton auf das Laufband rutschen und verschwand anschließend in der Tiefe des Ladens.
Nachdem Gerald die restlichen Artikel aufgelegt und
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