Nachtkalt: Psychothriller (German Edition)
Gericht auf keinen Fall essen darf. Sollte sie es schon gegessen haben und irgendwelche Symptome aufweisen, drängen Sie darauf, dass man ihr den Magen auspumpt. Erwähnen Sie das Medikament nur, wenn es medizinisch nicht anders geht.« Mike machte eine Pause. »Verstanden?«
»Ja«, lautete die verunsicherte Antwort und Mike sprach weiter: »Ich komme jetzt so schnell wie möglich zu Ihnen. Sie bleiben in der Küche und öffnen niemandem, auch nicht Ihrem Freund. Versuchen Sie ihm noch abzusagen. Ich werde durch den Garten an die Terrassentür kommen und Sie von dort noch einmal anrufen.« Mike stockte. »Wo ist eigentlich Ihr Bruder?«
»Der ist bei einer Nachbarin. Dort bleibt er über Nacht.«
»Gut«, Mike war erleichtert, »also machen wir es so? Sie rufen jetzt die Klinik an, schicken dann Ihrem Freund eine Nachricht und öffnen mir später die Terrassentür.«
»Alles klar.« Irgendwie tat es Anja gut einen Plan zu haben. Sie legte auf, wählte die Nummer der Klinik und meldete sich mit einem Doktortitel, den sie noch gar nicht hatte, da sie wusste, dass sie die diensthabende Stationsschwester so ernster nehmen würde. Über ihre eigene Ruhe erstaunt, schilderte sie, was ihr mit dem Essen passiert war und dass man es ihrer Mutter sofort wegnehmen musste. Dann bestand sie auf einen Rückruf und begann, nachdem die Krankenschwester aufgelegt hatte, Florian eine Nachricht zu tippen. Als sie wenige Minuten später seine Antwort erhielt, war diese seltsam knapp, doch Anja war froh, nicht auch noch diskutieren zu müssen. Natürlich hätte sie ihn gerne gesehen, aber mit Köstner fühlte sie sich sicherer.
Mike schaffte es in Rekordzeit und hielt, trotz des immer noch andauernden Feierabendverkehrs, nach nur 20 Minuten vor dem Haus. Obwohl es gerade einmal 19 Uhr war, fühlte es sich hier wie mitten in der Nacht an. Die einzige Lichtquelle war eine schwache Außenleuchte neben der Eingangstür, deren Schein nur wenige Meter weit reichte. Er stellte erst das Licht, dann den Motor ab und war augenblicklich in Dunkelheit gehüllt. Hinter den verschlossenen Autotüren wartete er, bis sich seine Augen an das fehlende Licht gewöhnt hatten und stieg dann erst aus.
Zum ersten Mal seit seinem Austritt aus dem Polizeidienst war er froh, noch eine Waffe zu besitzen. Er zog diese aus seinem alten Schulterhalfter und hielt sie auf den Boden gerichtet. Anschließend knipste er die kleine, aber starke Taschenlampe an und folgte dem schmalen Weg, der bis zu dem Garten auf der Rückseite des Hauses führte.
Am Ende der vorderen Hauswand angelangt, warf er einen schnellen Blick um die Ecke, immer die Waffe im Anschlag, doch es war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Nachdem er einige Sekunden verharrt hatte, um in die Umgebung zu lauschen, ging er vorsichtig weiter. Den Strahl der Lampe immer abwechselnd in das Unterholz und dann wieder nach vorne richtend, wäre er fast auf etwas getreten, das er erst im letzten Augenblick erkannte. Mike überwand den ersten Impuls, sich sofort danach zu bücken, leuchtete er noch einmal in alle Richtungen und hob das Papier erst auf, als er sicher war, dass ihm niemand eine Falle stellte. Das viereckige Blatt fühlte sich irgendwie wie Karton an und war auf der einen Seite einfach nur weiß. Mike drehte es um und hatte augenblicklich das Gefühl, als hätte ihm jemand in den Magen geschlagen. Das Foto zeigte eine alte Aufnahme seiner Frau mit den beiden Kindern ... alle drei waren schon lange tot.
Mike ließ sich mit dem Rücken gegen die Hauswand fallen und versuchte die alten Bilder auszublenden. All das Blut, die ausdruckslosen Augen seiner toten Tochter, den flehenden Blick seines Sohnes und die hilflos verrenkte Stellung seine Frau.
Bitterer Mageninhalt bahnte sich seinen Weg nach oben und drang mit Macht nach außen. Er übergab sich mehrere Male, bis er es endlich schaffte, etwas durchzuatmen. Nach einem letzten Aufbäumen seines Körpers sagte er laut in Richtung Unterholz: »Ich kriege dich, du verdammtes Arschloch ... ich kriege dich!«
Mike wusste, dass er sich jetzt zusammenreißen musste, doch es fiel ihm schwer, auch weiterhin vorsichtig zu sein, denn in ihm kochte eine alte Wut. Er folgte dem Weg weiter und fand noch weitere Fotos, allerdings nicht von seiner Familie.
Auf dem ersten Bild war sein früherer Partner Peter Groß zu sehen, oder besser gesagt ein abfotografierter Zeitungsausschnitt, der zeigte, wie Peter gerade verhaftet wurde.
Zwei Schritte weiter,
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