Nachtkalt: Psychothriller (German Edition)
vorbeizukommen.
Als sie aufgelegt hatte und den Hörer weglegen wollte, fühlte sie sich noch kraft- und mutloser als zuvor. Das Gerät klingelte erneut, sie hob ab und fragte mit belegter Stimme: »Was ist denn noch?«
Dieses Mal hatte er nichts von seiner schleimigen Freundlichkeit in der Stimme, mit aggressiver Stimme sagte er: »Hör mir gut zu, du Schlampe. Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich die Spielregeln bestimme. Glaubst du ernsthaft, dieser abgehalfterte Ex-Kommissar kann dich auch nur im Geringsten beschützen?« Bis Anja richtig realisierte, wen sie da in der Leitung hatte, war es bereits zu spät. Ihr Körper leitete seine Schutzmaßnahmen ein und schickte sie in eine kurze Ohnmacht. Sie schaffte es zwar noch, relativ sanft auf dem Boden aufzukommen, doch dann ergriff eine wohltuende Schwärze ihr bewusstes Denken und schickte sie in einen Zustand, in dem es nur noch um ihren Körper ging.
27
Was mit einem leisen Pfeifen begann, vervollständigte sich langsam zu einem penetranten Dauerton. Kälte war das erste Gefühl, aber warum Kälte? Anja öffnete die Augen einen schmalen Spalt breit und erkannte das Muster des Küchenbodens, auf dem sie lag. Unsicher versuchte sie einzelne Körperteile zu bewegen, was relativ mühelos gelang. Offenbar war sie nicht verletzt und auch nicht gefesselt. Ein Stück neben ihr lag irgendetwas, doch sie musste den Kopf ein Stück bewegen, um es erkennen zu können. Wenige Zentimeter von ihrem Kopf entfernt, lag das Telefon und damit auch die Quelle des Pfeiftons. Langsam wurde ihr wieder bewusst, was passiert war. Sie griff nach dem Gerät und wollte es abschalten, doch mit ihrer eingeschlafenen Hand war das nicht zu schaffen. Erst nachdem sie sich ein wenig aufgesetzt hatte und die zweite Hand zu Hilfe nahm, schaffte sie es, die notwendige Taste lange genug zu drücken, um das Gerät komplett abzuschalten. Der Gedanke, dass er sie jetzt nicht mehr erreichen konnte, gab ihr etwas Kraft. Sie atmete noch einmal durch und zog sich an einem der Stühle hoch. Bisher hatte sie die Einsicht verdrängt, aber so konnte es nicht mehr weitergehen. Entweder dieser Spuk hörte auf, oder sie musste sich in ärztliche Behandlung begeben. Ihr nervlicher Zustand wurde von Tag zu Tag schlimmer und sie konnte keinerlei Einfluss darauf nehmen. Immer wenn sie glaubte, dass sich alles ein wenig beruhigt hatte, kam der nächste Schlag und was am schlimmsten war – niemand konnte ihr sagen warum.
Anja legte das nun stumme Telefon auf den Tisch, ging auf wackligen Beinen zur Spüle und ließ sich ein Glas Wasser volllaufen, das sie fast in einem Zug leerte. Anschließend fühlte sie sich fit genug, um Köstner anzurufen.
Ihr Handy, mit dem sie vorhin noch Florian geschrieben hatte, lag noch immer neben dem Aschenbecher, doch dort lag jetzt noch etwas, was sie mit Sicherheit nicht dahin gelegt hatte. Als würde sie sich einer Schlange nähern, ging sie zurück zum Küchentisch, immer die beiden Gegenstände im Blick. Es waren nur vier Schritte, aber erst beim letzten erkannte sie, was dort lag. Neben der Quittung für die Tortellini, die sie ihrer Mutter gebracht hatte, lag der Beipackzettel eines Medikamentes. Anja war sich sicher, dass sie die Quittung in der Tüte mit dem Essen gelassen hatte, und diese stand noch in der Klinik. Mit jetzt wieder zitternden Fingern nahm sie den Beipackzettel, las, um was es sich dabei handelte, und erneut knickten ihr die Beine weg.
Irgendwie schaffte sie es dieses Mal, nicht endgültig zusammenzuklappen, und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Das Medikament, zu dem dieser Begleitzettel gehörte, war ein hochdosiertes Mittel gegen akute Herzprobleme. Anja kannte das Präparat zwar vom Namen her, aber nicht genau. Sie las weiter und erfuhr, dass es keinesfalls gesunden Menschen verabreicht werden durfte, außerdem konnte es tödlich enden, wenn man die Tabletten zerkleinerte, da diese magensaftresistent waren und sich erst im Darm auflösen durften.
Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass er während ihrer Ohnmacht hier gewesen sein musste. Da sie mit dem Rücken zur Flurtür saß, sah sie sich erst panisch um, ließ sich seitlich vom Stuhl rutschen und schob sich rückwärts bis in die hinterste Ecke neben der Küchenzeile. Dort griff sie sich eines der großen Schneidmesser und hielt den Atem an. Zehn Sekunden ... nichts. 20 Sekunden ... nichts. So leise wie möglich ließ sie die verbrauchte Luft aus ihren Lungen weichen und sog frische ein. Das
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