Nachtklinge: Roman (German Edition)
drückte Atilo die Klinke nieder. In der Hand trug er eine Lampe, deren Licht grell in das dunkle Zimmer fiel. Desdaio trat zur Seite und bedeutete ihm, einzutreten.
»Iacopo bleibt draußen«, sagte sie.
»Er ist mein Zeuge.«
»Wofür?«
»Zeigt mir das Taschentuch, das ich Euch geschenkt habe.«
Sein Ton war herrisch, als spreche er mit einer Bediensteten. Sie schob das Kinn vor und ihre Augen blitzten. Dann erlosch ihr Blick. Sie hatte es immer gewusst.
Ihr war kein glückliches Leben bestimmt.
»Ich habe es verloren.«
»Aha«, knurrte Atilo. »Ihr habt es verloren!«
»Was erwartet Ihr von mir? Soll ich meine Holztruhe von oben bis unten durchwühlen oder behaupten, Amelia hätte es gestohlen? Genau wie das Unterkleid, das ebenfalls fehlt?«
Atilo zog ein Stück Stoff aus seiner Tasche hervor. »Bestreitet Ihr, dass ich Euch dieses Tüchlein geschenkt habe?«
»Ich habe noch niemals die Wahrheit abgestritten.«
»Wie könnt Ihr das behaupten?«
»Jedenfalls nicht, wenn es um wichtige Dinge ging«, fiel Desdaio ihm ins Wort. »Nicht, wenn es um die Ehre ging.«
»Ihr sprecht in meiner Gegenwart von Ehre?«
»Nun, wollt Ihr vielleicht darüber sprechen?«, fauchte sie unerwartet heftig. »Wer eilt denn ins Bett der Dogaressa, sobald sie ruft, wer beschläft seine Dienerinnen und geht in den Bordellen ein und aus?« Desdaio funkelte ihn an. »Glaubt Ihr etwa, ich wüsste nicht über Amelia und Eure Dirnengeschichten Bescheid?«
Desdaios Stimme brach, während Alexa fassungslos zuhörte. Der Mut verließ sie und Tränen löschten das Feuer in ihren Augen. Atilo betrat mit langen Schritten das Zimmer, und Iacopo folgte ihm.
34
D ie Eingangstür zu Atilos Haus stand offen, und allein das war ein Zeichen dafür, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. In der Eingangshalle brannte eine Lampe und in der Küche, die Atilo vor Kurzem ins Erdgeschoss hatte verlegen lassen, flackerte eine Kerze.
Im Haus herrschte tiefe Stille.
»Oben«, sagte Amelia.
Tycho jagte die Treppe hinauf und hatte die Tür aufgestoßen, ehe er bemerkte, dass Pietro direkt hinter ihm war.
»Nein«, rief Amelia, aber da war es bereits zu spät.
Pietro hatte sich an Tycho vorbei ins Zimmer geschoben und war mit offenem Mund stehen geblieben. Desdaio saß zusammengesunken auf einem Stuhl. An ihrer Kehle waren rot unterlaufene Würgemale zu erkennen, ihre Lippe war aufgerissen. Atilos Dolch steckte bis zum Heft in ihrer Brust.
»Tu’s nicht«, sagte Tycho.
Sein Blick traf Desdaios.
Sie zog den Dolch mit einem Ruck heraus. Der Mann, der sie erstochen hatte, bemerkte kaum, wie das Blut zwischen den Fingern seiner Geliebten hervorquoll. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf Tycho gerichtet.
»Du wagst dich hierher?«
In Atilos blutbeschmierten Händen befand sich ein weiterer Dolch. Nach venezianischer Tradition hatte er Desdaio erst gewürgt und sie anschließend erstochen, damit er sie nicht mit bloßen Händen tötete. Sonst könnte ihn ihr Geist verfolgen.
»Sie ist noch am Leben«, sagte Amelia.
»Nicht mehr lange.« Pietro Stimme bebte. Er umklammerte Desdaios Hand und blickte sie unverwandt an, während Tränen über sein Gesicht liefen.
»Wie konntest du das tun?«, knurrte Atilo.
»Was meint Ihr?«, gab Tycho zurück.
»Du hast mich entehrt!«
Seine Geliebte lag im Sterben, die Assassinen waren in Ungnade gefallen, vielleicht sogar vernichtet, und dieser Mann hatte nur seine Ehre im Kopf? Tycho zog entschlossen seinen Dolch.
»Habe ich keine Antwort verdient?«, fauchte Atilo.
»Ihr habt gar nichts verdient, und Gräfin Desdaios Ehre ist unangetastet. Ich weiß nicht, was Iacopo Euch erzählt hat, aber nichts, was heute Abend geschehen ist, hat sie auch nur im Mindesten entehrt.«
»Ihr jungfräuliches Blut …«
»Was?!«
Atilo zog das Stück Stoff aus seinem Ärmel, und Tycho erkannte das Taschentuch, mit dem Desdaio die Blutung gestillt hatte.
»Woher habt Ihr das?«
»Iacopo hat es gefunden. Er ist ihr bis zu deinem Haus gefolgt und hat gesehen, wie sie es auf dem Heimweg weggeworfen hat. Das Tuch war ein Geschenk von mir, und sie hat es benutzt, um …«
»Sie hat sich selbst zur Ader gelassen und das Tuch danach auf die Wunde gedrückt.«
»Du lügst«. Atilos Stimme bebte.
»Nein.« Tycho trat auf ihn zu. »Ihr habt das getötet, was Euch am liebsten war. Aber was soll man auch von einem Mann erwarten, der seine Familie im Stich gelassen hat, um dem Dogen zu dienen?«
Atilos Gesicht
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