Nachtklinge: Roman (German Edition)
nehme ich dich fest. Du wirst beschuldigt, Graf Atilo und seine Braut ermordet zu haben. Ich habe meine Zweifel, dass die Gerichte bei einer so niederträchtigen Gewalttat Milde walten lassen.«
Der Blick des Regenten verweilte auf Atilos Leiche, und er lächelte zufrieden.
35
D ie Gerüchte verbreiteten sich schneller als ein Lauffeuer, züngelten in die Schenken und flammten in den engen Gassen auf. Da die Behörden nichts unternahmen, kursierte schließlich ein Dutzend Versionen, deren Wahrheitsgehalt jeweils von einer Anhängerschaft beschworen wurde. Als sich die erste Aufregung gelegt hatte, fachten die beiläufigen Kommentare, dunklen Hinweise und dreisten Lügen der Schankwirte und Straßenhändler die Flammen aufs Neue an.
Desdaio Bribanzo habe Graf Atilo vergiftet und sich selbst ins Messer gestürzt.
Der Maure habe sie erwürgt und sich die Pulsadern aufgeschnitten wie ein Römer. Er habe einen Brief hinterlassen, in dem er erklärte, er habe niemals eine andere Frau geliebt als seine erste Gattin.
Mameluckische Mörder hätten den Mauren und seine Verlobte ermordet.
Atilos eigene Familie, die er in Tunis zurückgelassen hatte, um Venedig zu dienen, habe sich gerächt. Oder nein, Kaiser Sigismund habe die weiseste Stimme des Rates der Zehn zum Schweigen gebracht. Oder steckte Johannes V. Palaiologos dahinter, der Atilo wegen seines Siegs über die Mamelucken fürchtete?
Bald kannte sich niemand mehr aus. Tycho, den man im Verlies hinter dem Palast gefangen hielt, erfuhr nichts von alledem. Pietro hatte man auf Befehl Alexas in Tychos Haus geschickt.
Amelia befand sich auf dem Weg nach Paris.
Dass sie abreisen sollte, war das Einzige, worauf sich der Regent und seine Schwägerin einigen konnten. Alexas Zorn auf Dr. Crow hätte um ein Haar zum Bruch des Waffenstillstands mit Alonzo geführt. Im Rat der Zehn erklärte die Dogaressa mit kalter Stimme, Dr. Crow habe sie hintergangen, indem er den Regenten informierte. Alonzo seinerseits hielt daran fest, der Alchemist habe lediglich seine Pflicht getan. Die Vorfälle in der Ca’ il Mauros waren so ernst, dass beide Regenten davon erfahren mussten.
»Johannes V. Palaiologos hat seine Hände im Spiel gehabt? Der byzantinische Kaiser?«, fragte Tycho.
»Ohne Zweifel, Exzellenz.«
Der Aufschließer steckte die Münze ein, die ihm die Zunge gelöst hatte, und Tycho überdachte diese sogenannten
Fakten.
Keines der Gerüchte, die der Aufschließer verächtlich abgetan hatte, kam der Wahrheit nahe, auch letzteres nicht, das der Mann für die Wahrheit hielt.
Da der Mann nicht verschwunden war, nachdem er das Geld genommen hatte, wusste Tycho, dass das Spiel noch nicht verloren war. Man ließ ihn holen, damit er sich zu den Vorwürfen äußerte, und man würde auch nach Iacopo schicken.
»Exzellenz, bitte entschuldigt …«
»Wofür?«
Der Mann wies auf das nackte Mauerwerk, das feuchte Stroh, den übervollen Eimer und den Teller mit halb verdorbenem, eingelegtem Gemüse. »Ihr seid gewiss Besseres gewohnt.«
»Verglichen mit dem Verlies der Schwarzkreuzler ist das hier das reinste Paradies.«
Der Aufschließer machte große Augen. Er hatte noch nie von einem Edelmann gehört, der das Verlies der Schwarzkreuzler überlebt, geschweige denn darüber gescherzt hätte. Aber einer wie dieser junge Mann mit dem grauen Haar, der schwarze Kleidung trug, tagsüber auf dem nackten Boden schlief und sich wenig darum scherte, wo er sich befand, war dem Aufschließer auch noch nie untergekommen.
Tycho lächelte. »Am besten, Ihr geht voran.«
Der Rat der Zehn tagte an diesem Abend in einem der oberen Säle. Zehn vergoldete Stühle waren hufeisenförmig angeordnet, zwei noch wertvollere Stühle flankierten den Thron.
Der Doge war nicht anwesend.
Er schläft, hatte Alexa behauptet.
Dabei war das schmerzliche Wehklagen in Marcos Gemach nicht zu überhören. Seine Zuneigung für Desdaio war allgemein bekannt, und auch Graf Atilo war ein Teil seines Lebens gewesen.
Marcos Thronsessel und Graf Atilos Stuhl blieben heute Abend leer. Alexas Blick schweifte immer wieder zu Atilos verwaistem Platz, was vermutlich nicht nur Tycho bemerkte. Die Ratsmitglieder hatten sich darauf geeinigt, dass lediglich Tycho und Iacopo ihre Version der Geschichte zu beeiden hatten. Alonzo, der für Iacopo Partei ergriff, behauptete, Amelia sei Tychos Dirne und ihre Aussage daher nicht vertrauenswürdig.
Iacopo wurde zuerst aufgerufen.
»Schwörst du, nichts als die Wahrheit zu
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