Nachtkrieger: Unendliche Sehnsucht: Roman (Knaur TB) (German Edition)
kletterte er die Wand hinunter.
Über ihm jubelte der Knappe vor Freude. »Los, Mylord. Eilt zu Eurer Dame!«
»Dieser kleine Hurensohn!«, knurrte der geschlagene Tunstall wütend und schwang seinen Lederknüppel und traf den Knappen am Schienbein, und zwar so fest, dass Gunnar es knacken hörte. Der Junge schrie auf, verlor den Halt. Als er fiel, fiel er auf seinen Herrn, William, und riss ihn mit sich. Beide landeten mit einem dumpfen Aufprall auf dem größer werdenden Knäuel von Männern am Fuß der Wand. Tunstall kletterte hastig nach unten, wohl, um dem auf der Nase liegenden Lord William das Band abzunehmen.
Wenn dieser Kampf um die Gunstbeweise ohne mindestens einen Knochenbruch blieb, wäre es ein Wunder. Mit einem halben Blick auf die kletternden, stürzenden und mit ihren Lederknüppeln aufeinander einprügelnden Männer stellte Gunnar sich unter den Handschuh und schritt mit sieben langen Schritten die Wand bis zum Ende ab. Dann stieg er über ein paar abgestürzte Wettkämpfer, ging um die Wand herum auf deren Rückseite und maß abermals sieben lange Schritte ab. Eigentlich müsste der Handschuh genau – er schätzte die Entfernung noch einmal sorgfältig ab – dort oben sein.
Da niemand ihm in die Quere kam, brauchte er bloß einen Augenblick, um die Wand zu erklimmen, hinüberzugreifen und nach etwas Weichem zu tasten. Kaum hatte er etwas ertastet, etwas, das sich nicht nach Leder anfühlte, da packte ihn jemand am Handgelenk. Gunnar riss seinen Arm zurück, in der Hand, was auch immer er erobert hatte, und lachte, als er jemanden fluchen hörte. Er sah kurz auf den Handschuh hinunter.
Bei den Göttern! Es war kein Handschuh, sondern ein weinroter Schleier, auf den gut ein Dutzend Männer ein Auge geworfen hatten.
Nun ja, egal. Er wusste ja auch nicht, wem der Handschuh gehörte – und es war ihm ziemlich gleichgültig, ebenso wie das Gefluche und Protestgeschrei, das dem Schleier über die Holzwand folgte.
Schließlich hatten die Regeln nichts darüber verlauten lassen, dass die Rückseite der Wand tabu war, was seitens des Herolds mit einer raschen Antwort auf die Proteste bestätigt wurde. Grinsend stopfte Gunnar das Stück Stoff in sein Hemd, kletterte die Wand so weit hinunter, dass er auf den Boden springen konnte, und machte sich auf den Weg, um sich seinen Kuss abzuholen. Nun ging der Spaß erst richtig los.
Als er wieder auf der Vorderseite der Wand erschien, versetzten ihm zwei Männer zwei kräftige Hiebe – der eine oben, der andere unten. Gunnar ging zu Boden, schaffte es aber noch, eine Drehung zu machen, so dass er auf einem der beiden Männer landete, der unter Gunnars Gewicht ächzte. Nun erschien ein dritter Mann, mit fliegenden Fäusten. Ein Schlag auf den Kopf mit dem Lederknüppel setzte den Mann außer Gefecht. Gunnar hievte ihn zur Seite, dann holte er blitzschnell aus und verpasste dem, der unter ihm lag, einen Ellbogenstoß, genau gegen sein Kinn. Der Mann sackte in sich zusammen, und so blieb nur noch einer, der Gunnars Knie mit beiden Armen umklammerte.
Gunnar grub die Finger in das Haar des Mannes und zerrte mit einem Ruck daran, bis sein Widersacher aufheulte und ihn losließ. Er schien kaum älter als ein Junge – ein Knappe vielleicht, oder sogar ein Page. Gunnar zögerte, denn eigentlich wollte er einen Pagen nicht schlagen, jedenfalls nicht bloß zum Spaß, und in genau diesem Moment gab der Junge ihm einen Hieb auf die Nase, so fest, dass Gunnar die Augen tränten.
Von wegen Spaß! Gunnar schlug zurück – nicht allzu fest, aber fest genug, um seinen Standpunkt eindeutig klarzumachen. Dann versetzte er dem Pagen mit dem Fuß einen Stoß in den Unterleib.
Gunnar rappelte sich auf und steuerte auf den Holzturm zu. Ein halbes Dutzend Männer mit blutunterlaufenen Augen schwärmten aus, um ihm den Weg zu versperren. Mit freudigem Gebrüll senkte Gunnar den Kopf und rannte sie um. Zwei flogen auf die Nase, zwei jedoch sprangen ihn von hinten an. Blitzschnell drehten ihm die beiden die Arme auf den Rücken. Er fuhr herum und schüttelte einen ab, aber der andere ging mit erhobenem Lederknüppel auf ihn los.
Hinter Gunnars Lidern explodierte die Welt, wurde dann neblig und verschwommen. Als er auf die Knie fiel, fielen zahlreiche Hände über ihn her, fuhren unter sein Hemd, um den Schleier zu erbeuten, alles andere als sanft. Er konnte einen Arm befreien und wollte seine Trophäe verteidigen, war aber zu langsam. Der Schleier peitschte ihm beinahe
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