Nachtkuss - Howard, L: Nachtkuss - Burn
das Virus bis dahin losgeworden sei. Anschließend hatte sie ihm noch einmal versichern müssen, dass die Krankheit harmlos war. Ihren Vater gleichzeitig zu überzeugen, dass sie einerseits zu krank für eine Kreuzfahrt war, aber andererseits nicht so krank, dass er sie besuchen kommen und ins Krankenhaus bringen oder jemanden zur persönlichen Betreuung vorbeischicken musste, war ein komplizierter Balanceakt. Während des gesamten Telefonats hatte Kim sie beobachtet und aufmerksam zugehört, ob Syd ihrem Vater vielleicht kodierte Botschaften übermittelte.
Als wüsste sie, wie man kodierte Botschaften übermittelte.
Dass sie nichts an ihrer Situation ändern konnte, war besonders frustrierend. Sie wusste, wie man einen Empfang organisierte, ein Outfit zusammenstellte und tausendundeine
gesellschaftliche Verpflichtungen unter einen Hut brachte. Aber abgesehen davon, dass sie Auto fahren konnte, verfügte sie über keine Fähigkeit, die man als nützlich betrachtet hätte - und selbst wenn, hätte sie wahrscheinlich nicht die Nerven besessen, etwas zu unternehmen, sodass sich die Frage erübrigte.
Das Gespräch mit Jenner hatte sie ungemein beruhigt. Beide Telefonate hatten nur so lange gedauert, dass sie sich gegenseitig nach ihrem Zustand erkundigen konnten, aber Jenners Stimme zu hören und zu wissen, dass es ihr gut ging, hatte ihr wieder Hoffnung gegeben, sie könnten wohlbehalten aus dieser Geschichte herauskommen. Jenners Kidnapper ließen sie telefonieren, und zwar zu nachtschlafender Stunde, woraus Syd schloss, dass ihre Freundin ihnen die Hölle heiß gemacht hatte. Die Vorstellung gefiel ihr, denn es bedeutete, dass Jenner gesiegt hatte, wenn auch nur in einer winzigen Schlacht.
Syd konnte sich sogar vorstellen, wie Jenner diese Leute überzeugt hatte, sie telefonieren zu lassen. Jenner vertraute niemandem leichtfertig; sie würde die Versicherungen, dass es ihrer Freundin gut ging, nicht für bare Münze nehmen, und ihr war sofort zuzutrauen, dass sie sich bockig stellte und jede Kooperation verweigerte, wenn sie sich nicht jeden Tag mit eigenen Ohren überzeugen durfte.
So war Jenn: vielleicht keine harte Nuss, aber eindeutig widerborstig. Selbst wenn sie Angst hatte, stellte sie sich auf die Hinterbeine und kämpfte. In anderen Worten, sie war das genaue Gegenteil von Syd, die noch nie in ihrem Leben um etwas gekämpft hatte.
Plötzlich schämte sie sich dafür. Sie hatte alle Vorteile genossen, die ihr luxuriöses Leben bot. Sie hatte nie mit wenig Geld auskommen müssen, sie war nie bedroht worden,
hatte nie gehungert - wenn sie nicht gerade auf Diät war -, und trotzdem ließ sie sich wehrlos herumschubsen. Sie hatte eine Verlobung aufgelöst, weil sie herausgefunden hatte, dass die angebliche Liebe ihres Lebens weniger an ihr als an ihrem Vermögen interessiert war. Und wenn schon. Zu Jenner war das Leben längst nicht so gnädig gewesen, trotzdem hatte sie sich nie unterbuttern lassen. Stattdessen leckte sie jedes Mal nur kurz ihre Wunden und stieg dann wieder in den Ring.
Draußen im Salon hörte Syd ein Klopfen und eine singende Stimme: »Zimmerservice.«
Sekunden später kam Kim zu ihr ins Schlafzimmer gehuscht und schloss die Tür. Syd drehte sich kaum von ihrem Aussichtsplatz am Fenster um. Selbst wenn sie den Mut dazu aufgebracht hätte, hätte sie nicht um Hilfe gerufen, weil sie nicht riskieren wollte, dass Jenner ihretwegen leiden musste. Es war eine gute Ausrede, feige zu sein, aber sie war berechtigt.
Kim stand schweigend da, bis sie hörte, dass der Zimmerkellner gegangen war, dann sagte sie: »Das Mittagessen ist da.«
»Ich hab’s gehört«, antwortete Syd tonlos, nicht direkt trotzig, aber hörbar unfreundlich. »Was haben Sie für mich bestellt?«
»Ein Steaksandwich.« Kim zögerte. »Wenn Sie was anderes möchten, brauchen Sie es nur zu sagen. Wir können auch eine Pizza oder was Chinesisches oder Mexikanisches bestellen - alles, was Sie wollen.«
War das nicht zuvorkommend? Die Gefangene hatte freie Essenswahl. Sie sah auf ihre Hände, und plötzlich kam ihr ein Gedanke. Das war tatsächlich zuvorkommend. Überall auf der Welt sehnten sich Gefangene danach, ihr Essen selbst auswählen zu dürfen. Warum waren
ihre Entführer so nett? Warum ließen Jenners Entführer sie jeden Tag anrufen?
Weil sie gebraucht wurden . Die Antwort traf sie wie eine Ohrfeige. Das lag doch auf der Hand. Sie brauchten Jenn, und sie setzten Syd ein, um sie zur Mitarbeit zu zwingen. Jenn
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