Nachtkuss - Howard, L: Nachtkuss - Burn
voll zu tun, um alles zu regeln. Du bist die Erste, die davon erfährt - na gut, abgesehen von der Finanzfrau. Sag zu niemandem ein Wort!«
»Ich werde schweigen wie ein Grab. O Mann. Ich glaube es nicht. Du bist reich!«
»Fast. Bald. Vielleicht nächste Woche.«
»Das genügt!« Michelle stieß einen weiteren Freudenschrei aus. »Mädchen, das wird heute groß im Bird’s gefeiert, und du übernimmst die Rechnung!«
3
Gewohnheiten sind nur schwer totzukriegen. Entweder das, oder sie konnte immer noch nicht wirklich glauben, was ihr widerfahren war. Warum auch immer, jedenfalls trat Jenner am Nachmittag ihre übliche Schicht an; die Feier mit Michelle würde bis nach Arbeitsende warten müssen. Sie verschob auch den Anruf in der Lotteriezentrale, obwohl Al auf Hochtouren arbeitete, um alles in Gang zu bringen. Es kam ihr fast so vor, als würde sie einen schlafenden Tiger am Schwanz ziehen, und sobald sie ihn geweckt hätte, würde nicht mehr sie, sondern der Tiger die weiteren Ereignisse bestimmen.
Sie war noch nicht so weit, der Welt von ihrem Gewinn zu erzählen. Sie war noch nicht bereit, ihr bisheriges Leben aufzugeben. Darum schlüpfte sie ein weiteres Mal in das hässliche Polyesterhemd, fuhr zur Arbeit und legte dort den Overall und die Haube an. Sie riss Witze mit Margo, sie aß ihr Pausensandwich, sie erledigte ihren Job - und hatte dabei die ganze Zeit das eigentümliche Gefühl, in zwei Welten gleichzeitig zu stehen, auch weil sie zwischendurch einen akuten, unerwarteten Abschiedsschmerz empfand. Vielleicht würde sie diese Menschen nie wieder sehen, mit denen sie zwar nicht wirklich eng befreundet
war, die aber einen wichtigen Bestandteil ihres täglichen Lebens darstellten. Sobald bekannt wurde, dass sie im Lotto gewonnen hatte, würde sie zumindest vorübergehend keine alltäglichen Besorgungen mehr machen können. Und mal im Ernst, würde sie mit so viel Geld im Rücken in einer Fleischverpackungsfabrik arbeiten wollen? Nein, ganz bestimmt nicht, nicht eine Minute lang. Aber noch hatte sie das Geld nicht, und vieles, was bis dahin ganz normal gewirkt hatte, erschien ihr plötzlich bemerkenswert, als sollte sie es bewusst genießen und in ihrem Gedächtnis speichern.
Nach der Arbeit zog sie sich um und fiel mit Michelle im Bird’s ein, wo sie die Zeche übernahm, praktisch ununterbrochen tanzte und mit ihrer Freundin über alles und jedes lachte. Das Glücksgefühl britzelte wie Champagner in ihren Adern. Sie war jung und sie war reich! Konnte das Leben noch besser werden? Wen kümmerte es schon, wenn sie ihr Geld auf den Kopf haute und der nächste Wochenlohn erst in drei Tagen ausgezahlt wurde? Sie hatte die Gans aufgetankt und den Kühlschrank aufgefüllt, und mit Michelle zu feiern war wichtiger als irgendwelche Geldsorgen. In ein paar Tagen würde sie ihre Geldsorgen für alle Zeiten los sein.
Erst am nächsten Morgen holte sie die Wirklichkeit wieder ein. Wieder einmal musste sie Anrufe und andere Dinge erledigen.
Jenner atmete tief durch und wählte eine ungeheuer wichtige Nummer. Als sich jemand meldete, musste sie noch einmal tief durchatmen. »Ich habe den Sechser getippt«, erklärte sie kühn. »Was muss ich jetzt machen?«
»Haben Sie den Schein allein ausgefüllt?« Der Mann am anderen Ende klang fast desinteressiert. Vielleicht riefen dort ständig Leute an, die behaupteten, den Jackpot
geknackt zu haben. Wahrscheinlich war sie die Fünfzigste, die dort anrief. Grimmig malte sie sich aus, wie alle möglichen Betrüger ihren Gewinn einstreichen wollten. Sie meinte fast vor sich zu sehen, wie sie zu Hause hockten, mühsam Tippscheine fälschten und sie möglichst echt hinzubekommen versuchten, damit sie das Geld einsacken und verschwinden konnten, bevor sich der echte Gewinner meldete.
»Klar. Ja.«
»Dann müssen Sie natürlich den Tippschein vorlegen und dazu einen Ausweis mit Foto sowie Ihre Sozialversicherungskarte - wenn Sie die Karte selbst nicht mehr besitzen, genügt auch ein Lohnzettel oder etwas Ähnliches, auf dem Ihre Nummer aufgeführt ist.«
Jenner versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, wo sie ihre Sozialversicherungskarte hingelegt haben könnte, aber ihr Hirn war wie leergefegt. Sie wusste nicht einmal, wann sie die Karte das letzte Mal gesehen hatte. Vielleicht würde sie wenigstens einen alten Lohnzettel finden. Was in aller Welt hatte sie mit dem letzten angestellt? Sie geriet fast in Panik. Was sollte sie nur tun, wenn sie keinen Lohnzettel
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