Nachtkuss - Howard, L: Nachtkuss - Burn
machen.«
»Danke.« Sie legte auf. Am liebsten hätte sie gegen irgendwas getreten. Acht Wochen! Und sie konnte nicht einmal acht Wochen still und heimlich abwarten, um dann ihren Gewinn einzulösen, weil der Anspruch erst überprüft wurde, nachdem sie ihn angemeldet hatte. Je eher sie in die Lotto-Zentrale kam, desto besser - und danach würde sie trotzdem noch mal zwei Monate in der verfluchten Fleischverpackungsfabrik malochen müssen.
Es gab nur einen Menschen, bei dem sie Dampf ablassen konnte, und so wählte sie Michelles Nummer.
»Zwei Monate!«, brauste sie auf, sobald Michelle den Hörer abgenommen hatte. »Die brauchen fast zwei Monate, um das Geld auf mein Konto zu schaffen!«
»Du verscheißerst mich.«
»Wenn’s nur so wäre.«
»Das kann doch nicht so schwer sein! Die brauchen doch bloß einen Scheck auszustellen!«
»Meine Worte. Also, vorerst keine weiteren Feiern«, prophezeite Jenner bedrückt. »Ich habe gestern fast mein ganzes Geld auf den Kopf gehauen, und jetzt darf ich mir überlegen, wie ich die nächsten zwei Monatsmieten auftreibe. Verflucht.«
»Verdammt«, kam Michelles Echo. »Dreck. Ich habe
mich schon so darauf gefreut, mit dir zum Powershoppen zu gehen und vielleicht an einem kühlen Fleckchen Urlaub zu machen, aber wenn die tatsächlich zwei Monate brauchen, um das Geld zu überweisen, ist der Sommer bis dahin vorbei.«
»Ich weiß.« Jenner seufzte. Die Hitze saugte ihr alle Kräfte aus, und sie hätte liebend gern Urlaub gemacht, aber dazu würde es vorerst nicht kommen. »So wie es aussieht, wird es eher ein Urlaub an einem warmen Fleckchen im Winter. Morgen früh fahre ich in die Stadt, um die Sache ins Rollen zu bringen. Je länger ich das hinausschiebe, desto länger dauert es, bis ich das Geld bekomme.«
»Ich würde zu gern mitkommen und zuschauen«, erklärte Michelle sehnsüchtig. »Aber ich kann mir morgen unmöglich frei nehmen. Du musst dir jedes winzige Detail einprägen, okay? Ich will alles erzählt bekommen.«
»Versprochen.«
Am nächsten Morgen frisierte und schminkte sie sich besonders sorgfältig. Am Haaransatz kam allmählich ihre Naturfarbe durch, aber der Zustand war noch vertretbar, wenn sie die dunklen Stellen unter einem Zickzack-Scheitel verbarg. Sie zog die Sachen an, die sie sonst zu Beerdigungen trug - eine weiße, hochgeschlossene Bluse mit kurzen Ärmeln über einem dunkelblauen Bleistiftrock und weißen Riemensandalen -, denn für eine Strumpfhose und Highheels war es entschieden zu heiß. Außerdem hatte ihre einzige Strumpfhose eine Laufmasche, und dank der Feier mit Michelle hatte sie kein Geld für eine neue. Für den Bus reichte es gerade noch, aber danach war bis zum nächsten Lohnscheck Ebbe.
Merkwürdig, wie sich eine Frau, die gerade noch ihren Job an den Nagel hängen wollte, innerhalb eines Telefonats
in jemanden verwandeln konnte, der nicht einmal das nötige Kleingeld aufbrachte, um sich eine neue Strumpfhose zu kaufen.
Während der Busfahrt versuchte sie sich wieder zu fassen und ihre Gedanken zu ordnen. Ein weiteres Gespräch mit Al hatte ein paar weitere Erkenntnisse gebracht. Al hatte erklärt, dass Jenner einen anonymen Treuhandfonds einrichten könne, um ihre Identität geheim zu halten, aber dass das kaum etwas bringen würde. Sobald Jenner Redwine, die nicht einmal ein Bankkonto unterhielt, ihren Job kündigte, sich einen neuen Wagen kaufte und in eine bessere Gegend zog, würden sich alle in ihrem Umkreis ausrechnen können, dass irgendwas im Busch war. Außerdem würde Michelle das Geheimnis nicht ewig für sich behalten können. Jenner liebte ihre Freundin, aber bei Michelle war der Mund oft schneller als das Hirn. Um einen anonymen Treuhandfonds einzurichten, brauchte sie obendrein einen Anwalt, was weitere Verzögerungen mit sich bringen würde, von den Anwaltskosten ganz abgesehen. Sie wollte die Sache endlich ins Laufen bringen.
In der Innenstadt stieg sie aus, fand das gesuchte Gebäude und fuhr mit dem Lift in den siebten Stock. Als sie die Tür öffnete, drehten sich alle Köpfe zu ihr um. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Hielten tatsächlich alle die Luft an, während sie auf die lange, hohe Theke zuging? Sie glaubte schon.
Im kleinen Wartebereich saßen drei weitere Besucher - die vielleicht kleinere Summen gewonnen hatten. Einer las in einer Zeitschrift, aber die beiden anderen ließen sie nicht aus den Augen. Worauf warteten sie nur? O Gott, musste sie sich etwa erst anmelden und dann
Weitere Kostenlose Bücher