Nachtkuss - Howard, L: Nachtkuss - Burn
Jenners Richtung schwenkte. »Sie übernimmt alles. Dafür haben sir wie. Ich meine, dafür haben wir sie .« Sie lachte über ihren albernen Versprecher und wackelte dabei so wild mit dem Arm, dass etwas von ihrem Cocktail aus dem Glas schwappte; sie hielt inne, wischte mit dem Finger über den Glasrand und steckte ihn dann in den Mund. »Huch«, sagte sie.
Huch? Meinte Michelle damit den Cocktail oder ihre Bemerkung von eben?
Jenner blinzelte und ließ sich in ihren Stuhl zurückfallen. Eigentlich wollte sie gar nicht glauben, was sie gerade gehört hatte - aber eben nur eigentlich. Vielleicht hatte
sie insgeheim nur darauf gewartet, aber andererseits vielleicht auch nicht, denn das hatte wehgetan . Also auch Michelle?
Wahrscheinlich hätte sie es kommen sehen müssen. Nicht dass es sie gestört hätte, ständig die Rechnung zu übernehmen, aber inzwischen erwartete Michelle das von ihr, selbst wenn Jenner so wie jetzt noch gar nichts getrunken hatte. Und die anderen drei … die kannte sie nur, weil sie öfter hierherkamen, aber sie kannte sie nur oberflächlich; sie wusste nicht einmal, wie sie hießen. Warum sollte sie diese Leute einladen?
Plötzlich war die Aussicht auf einen bunten Abend zu einem hässlichen Grau verblasst wie ein billiges T-Shirt.
»Ach nein, vergessen Sie das Bier«, sagte sie zu der Kellnerin. »Ich kann nicht bleiben.« Sie rückte den Schulterriemen ihrer Tasche zurecht und stand auf. »Eigentlich wollte ich nur kurz vorbeikommen und dir Bescheid sagen, weil wir verabredet waren«, sagte sie zu Michelle. »Und ich weiß, dass du hier drin dein Handy nicht hörst, weil es so laut ist.«
Michelle starrte sie an, und das Lächeln rutschte ihr vom Gesicht. »Was soll das?«
»Ich bin todmüde«, erklärte ihr Jenner.
»Klar, weil Einkaufen und Geldzählen so irrsinnig müde machen.« Michelle lachte laut über ihren Scherz, und alle am Tisch stimmten mit ein.
Jenner lachte nicht. »Ich muss los.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und versuchte zu entfliehen, bevor sie etwas sagte, das sie nicht zurücknehmen konnte. Sie und Michelle waren seit Jahren befreundet, aber sie spürte, dass ihre Beziehung in letzter Zeit aus dem Lot geraten war, und Jenner wollte sie nicht endgültig zum Kippen bringen. Michelle war halb - vielleicht sogar dreiviertel - betrunken,
und morgen würde sie sich entschuldigen, und dann wäre alles wie zuvor. Jedenfalls hoffte Jenner, dass es so kommen würde.
Sie schaffte es bis zur Tür und war schon in die vergleichsweise ruhige und kühle Nachtluft getreten, als Michelle sie einholte und an der Schulter packte. »Du kannst nicht einfach so abhauen.« Michelle lachte nicht mehr, und sie klang auch nicht mehr so beschwipst. »Ich habe kein Geld dabei. Du musst für uns zahlen.«
Widerwillig drehte Jenner sich um und sah ihre Freundin an. Michelle warf ihre dunklen Locken zurück und starrte ihr trotzig ins Gesicht. In der Bar konnte Jenner die Leute lachen, reden, trinken und tanzen sehen. Ein paar drängten an ihnen vorbei ins Freie, und andere drängten hinein, um ihren Platz einzunehmen. Schließlich sagte Jenner: »Du bist fest davon ausgegangen, dass ich kommen und alles bezahlen würde.«
Jetzt sah Michelle sie völlig fassungslos an. »Aber ja«, sagte sie, als verstünde sich das von selbst.
Plötzlich lastete eine tiefe Müdigkeit auf Jenners Schultern. Unterschied sich Michelles Einstellung denn wirklich von der ihres Dads und Dylans und der unzähligen Wohltätigkeitsorganisationen, deren Anrufe erst versiegt waren, als sie ihren Festnetzanschluss stillgelegt hatte? Zumindest war Michelle früher immer für sie da gewesen, was man von den anderen nicht sagen konnte. Das zählte. Sie öffnete das Portemonnaie, um Michelle genug Geld für ihre Zeche zu geben. Vielleicht würden sie das am nächsten Tag wieder geraderücken können. Vielleicht wäre Michelle in nüchternem Zustand dann nicht mehr so gehässig.
»Weißt du«, sagte Michelle, und ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem kleinen Feixen, »du hast dich ganz schön verändert, seit du das verdammte Geld gewonnen
hast. Früher warst du viel lustiger. Früher hast du nicht immer nur an Geld, Geld, Geld gedacht. Jetzt bist du nur noch …«
»Dein persönlicher Geldautomat?«, fiel ihr Jenner wütend und mit ätzendem Tonfall ins Wort, während sie ein Bündel Geldscheine aus dem Portemonnaie zog. Sie hatte sich verändert? Aber sicher. Alles um sie herum hatte sich verändert; wie
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