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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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brüllte: »Du Schlampe hältst deine Fresse!« Dann schnappte er sich eine Bierflasche und stürmte über den knarrenden Wohnzimmertisch. Gläser und der Kerzenständer klirrten zu Boden, und Mutter huschte mit Ingrid hinter einen der Polizisten. Mir stockte der Atem. Meine Gliedmaßen waren starr vor Angst.
    »Karsten!«, rief der Einsatzleiter in Richtung eines Kollegen. Der packte blitzschnell zu und bekam Franz am Handgelenk zu fassen, gerade als der die Flasche in Mutters Richtung schleudern wollte. Franz knurrte ihn nur an und rammte ihm den Ellenbogen gegen den Kehlkopf, worauf der Polizist röchelnd zusammenklappte. Noch im Zusammensacken zog Franz ihm die Bierpulle über den Schädel. Augenblicklich fielen die übrigen Polizisten über ihn her.
    »Ihr Scheißbullen! Lasst mich los!«
    Mit den Beinen strampelnd, versuchte er, sich herauszuwinden. Einer der Polizisten hatte ihn in einen harten Würgegriff genommen und drückte ihm die Kehle zu, die anderen hatten sich seine Arme und Beine geschnappt und hielten ihn unten. Franz wand sich mit hochrotem Kopf und angeschwollener Halsschlagader, wehrte sich völlig sinnlos, wollte aber wohl nicht tatenlos klein beigeben. Schließlich lag er bäuchlings auf dem Teppich, das Knie eines Polizisten im Genick.
    Als Mutter klar war, dass sie für den Augenblick nichts zu befürchten hatte, fing sie an, Franz zu beschimpfen, worauf er umso lauter zurückbrüllte. Mutter steigerte sich, Ingrid noch immer auf dem Arm, wieder in ihr hysterisches Keifen hinein.
    Das Geschrei. Mutters Aussehen. Die fremden Menschen in der Wohnung. Ingrid weinte, aber je fester Mutter sie an sich drückte, desto lauter wurde ihr Quengeln. Einer der Polizisten legte Mutter eine Hand auf den Arm und sagte leise: |277| »Das Kind.« Aber Mutter wollte sich nicht beruhigen lassen. Als könne sie so beweisen, was für eine treusorgende Mutter sie war, fing sie an, Franz Vorwürfe zu machen, weil er die Drogen in der Wohnung versteckt hatte. Die Polizisten hörten aufmerksam zu. Irgendwann gab Franz es auf, zurückzubölken, lag nur noch stumm da, aber Mutter fand kein Ende. Als Ingrid immer lauter heulte, setzte Mutter sie ab und gab ihr wie selbstverständlich eine Backpfeife, um anschließend weiter Franz anzuschreien. Ingrid kam weinend zu mir auf den Sessel geklettert und kuschelte sich an mich, drückte ihr warmes, verheultes Gesicht gegen meine Brust. Ich nahm ihre Hand und massierte ihre Finger.
    Die Polizisten sahen sich in der Wohnung um und warfen Ingrid und mir besorgte Blicke zu. Nach und nach dämmerte mir, was ich schon eine ganze Weile gespürt hatte, was mir aber in diesem Moment erst wirklich klarwurde: dass etwas bei uns nicht in Ordnung war. Dass das alles nicht richtig war.
    »Ich denke, es ist das Beste, wenn sich alle erst mal eine Nacht beruhigen«, unterbrach der Einsatzleiter schließlich Mutters Monolog. »Sie beide kommen mit uns und werden die Nacht in Arrestzellen verbringen, und …«
    »Ich auch?«, fiel ihm Mutter irritiert ins Wort.
    »Sie auch. Wir haben gerade noch einen Notarztwagen gerufen, und …«
    »Und meine Kinder?«
    »Die werden die Nacht beim Kindernotdienst verbringen, und alles Weitere muss dann geklärt werden, aber ich lasse die Kinder heute auf keinen Fall bei Ihnen.«
    Mutter schaute sich verwirrt um. Erst sah sie die übrigen Polizisten an, als würde vielleicht einer von ihnen noch einen anderen Vorschlag machen, und wandte sich dann Ingrid und mir zu, als erwarte sie, dass wir protestierten. Wir reagierten nicht. Eine Weile dauerte es, bis Mutter begriff, was vor sich ging, und als sie es verstanden hatte, widersetzte sie sich nicht. Fast schien es, als fiele eine Last von ihr ab.
    |278| Noch immer aneinandergekuschelt, saßen Ingrid und ich auf dem Sessel, ich mit Cowboyhut, Ingrid in einem viel zu weiten giftgrünen T-Shirt.
    »Verabschieden Sie sich und packen Sie ein paar Sachen zusammen«, sagte der Polizist.
    Als Mutter auf uns zugeschlurft kam, klammerte Ingrid sich an mich. Ich legte meine Arme um sie. Mutter, die gerade Luft geholt hatte und offenbar etwas sagen wollte, stockte und schluckte die Worte herunter.
    Wir sahen uns suchend an, wie man vertraute Orte betrachtet, wenn man sie zufällig im Fernsehen zu sehen bekommt. Als wäre uns der gewohnte Winkel abhandengekommen.
    »Tschüss«, sagte Mutter und ging.

|279| Oktober 2005
    Regen plätscherte in den Hinterhof und gurgelte blechern die Dachrinne herunter. Das wenige Licht,

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